Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)

Stellungnahmen des BIM zu den Folgen des Kriegs in der Ukraine

BIM-Paper – Stellungnahmen zu den Folgen des Kriegs in der Ukraine für Migration und Integration



Von Prof. Dr. Herbert Brücker, Prof. Dr. Manuela Bojadzijev, Dr. Nihad El-Kayed, Leoni Keskinkılıç, Anna Wiegand, Dana Abdel-Fatah, Prof. Dr. Ulrike Kluge, Judith Köhler, Simon Ruhnke, Prof. Dr. Aileen Edele, Prof. Dr. Zerrin Salikutluk (in order of appearance)





0 Einführung

1 Umfang, Verteilung und Struktur der Fluchtmigration

2 Die Folgen der Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie

3 Verteilung der Geflüchteten auf die Länder und Kommunen in Deutschland

4 Unterbringung und Wohnraumversorgung

5 Gesundheitsbezogene Herausforderungen und Infrastrukturen

6 Empfehlungen für das Bildungssystem

7 Förderung der Arbeitsmarktintegration

8 Zivilgesellschaftliches Engagement stärken


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Einführung



Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat bis zum 23. März zur Flucht von 10 Millionen Menschen geführt, von denen 3,7 Millionen die Ukraine verlassen und überwiegend in die Europäische Union (EU) geflüchtet sind. Seit den großen Flucht- und Vertreibungsbewegungen am Ende des Zweiten Weltkriegs haben noch nie so viele Menschen in so kurzer Zeit ihr Heimatland verlassen müssen. Wie viele Menschen noch flüchten werden, kann noch nicht eingeschätzt werden. Sicher ist, dass die EU, Deutschland und andere Zielländer der Fluchtmigration aus der Ukraine vor einer der größten humanitären Herausforderungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs stehen.

Das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) beschäftigt sich seit seiner Gründung mit den Ursachen und Folgen von Fluchtmigration, vor allem mit dem Anstieg der Fluchtmigration aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen von Krieg und politischem Terror betroffenen Staaten in den Jahren um 2015. Die Forschung zu Fragen von Flucht und Vertreibung, Integration und Teilhabe von Geflüchteten hat seitdem einen Aufschwung genommen. Große Datenbasen und umfangreiche qualitative Erhebungen sind entstanden, die empirische Untersuchungen und evidenzbasierte Politikempfehlungen erlauben. Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschlossen, eine Stellungnahme zu den wichtigsten anstehenden politischen Fragen der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine zu publizieren.

Vor dem Hintergrund der großen Ungewissheit über die Entwicklung des Krieges und der politischen Lage in der Ukraine hat sie nur vorläufigen Charakter. Wir wissen heute noch nicht, ob die meisten Geflüchteten in die Ukraine zurückkehren können oder wollen, oder ob sie dauerhaft in Deutschland bleiben werden. Diese hohe Ungewissheit unterscheidet die gegenwärtige Situation von der Fluchtmigration 2015/2016, weil damals für die meisten Geflüchteten eine Rückkehr in die Heimatländer nach Jahren von Krieg und Verfolgung keine realistische Option mehr darstellte. Mit dieser Ungewissheit müssen jetzt nicht nur die Geflüchteten, sondern auch Politik, Verwaltung und Gesellschaft umgehen. Es muss deshalb häufig in Alternativen und unterschiedlichen Szenarien gedacht werden.

Schließlich orientiert sich diese Stellungnahme an dem Leitbild, dass alle Geflüchteten unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Integrations- und Lebenschancen in Europa, Deutschland und anderen Aufnahmeländern haben sollten. Durch die Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie und die Visumsfreiheit sind Flucht, humanitäre Unterstützung und Integration für die Geflüchteten aus der Ukraine erleichtert worden. Wir begrüßen dies sehr, weil viele Fehler aus den Jahren 2015 und 2016 dadurch nicht wiederholt werden. Aus den Erfahrungen, die jetzt gemacht werden, sollte aber auch für eine Reform der europäischen und deutschen Flucht- und Asylpolitik insgesamt gelernt werden, damit auch bei anderen Konflikten vergleichbare humanitäre Standards angelegt werden können. 

Im Wesentlichen nehmen wir hier zu folgenden Fragen Stellung: Erstens, was man über die Entwicklung der Migration und die sozio-ökonomische Struktur der Geflüchteten aus der Ukraine sagen kann – und welche Schlussfolgerungen sich daraus für die nähere Zukunft ergeben. Zweitens, welche Folgen sich aus der Entscheidung der EU ergeben, die sogenannte „Massenzustrom-Richtlinie“ zu aktivieren und welche Änderungsbedarfe hier noch bestehen. Drittens, welche Schlussfolgerungen aus dem Zielkonflikt der Überwindung kurzfristiger Ressourcenengpässe bei der Unterbringung, Registrierung und Leistungsgewährung von Geflüchteten und ihren mittel- und langfristigen Integrationschancen durch eine Verteilung Geflüchteter auf Länder und Kommunen zu ziehen sind. Viertens, welche Schlussfolgerungen sich aus den Engpässen auf den Wohnungsmärkten und dem steigenden Mietniveau in den meisten Großstädten für die Unterbringung von Geflüchteten und ihre Unterstützung bei der Wohnungssuche ergeben. Fünftens, welche besonderen Anforderungen sich für das Gesundheitssystem bei der Versorgung Geflüchteter ergeben. Sechstens, vor dem Hintergrund, dass voraussichtlich knapp die Hälfte der Geflüchteten minderjährig ist, welche Handlungsempfehlungen für die Integration in das Bildungssystem getroffen werden können. Siebtens, welches die wichtigsten Politikoptionen für die Arbeitsmarktintegration bestehen, auch wenn noch offen ist, wie lange die Geflüchteten in Deutschland bleiben werden. Achtens schließlich, wie die Zivilgesellschaft unterstützt werden kann, die ähnlich wie schon 2015 und 2016 eine sehr starke Last bei der Betreuung und Versorgung der Geflüchteten trägt. •••



1 Umfang, Verteilung und Struktur der Fluchtmigration



Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Besetzung von Teilen des Landes, die offenen Grenzen der Europäischen Union (EU) für Geflüchtete aus der Ukraine und eine Reihe anderer Faktoren haben zur größten Fluchtbewegung in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs . Nach den Angaben des Hohen Kommissars für Flüchtlinge der Vereinten Nationen sind seit Kriegsbeginn am 24.2.2022 bis zum 23.2.2022 zehn Millionen Menschen geflüchtet oder vertrieben worden, darunter sind 6,3 Millionen Binnenvertriebene und 3,7 Millionen Geflüchtete, die die Ukraine verlassen haben. Rund zehn Tage nach Kriegsbeginn wurde der bisherige Höhepunkt mit rund 210.000 Geflüchteten, die pro Tag die Ukraine verlassen haben, erreicht; gegenwärtig sind es zwischen 60.000 und 70.000 Personen pro Tag. Wenn sich dieser Trend fortsetzen würde, hätten bis Ende März 2022 gut das Land verlassen. Mittelfristige, evidenzbasierte Schätzungen des Migrationspotenzials sind allerdings unseres Erachtens gegenwärtig nicht möglich. Zum einen, weil das Kriegsgeschehen und die Flucht- und Migrationsbedingungen historisch nicht vergleichbar mit anderen Fällen sind; zum anderen, weil der weitere Kriegsverlauf, sein möglicher Ausgang und die Konsequenzen für die Zivil- bevölkerung gegenwärtig völlig offen sind.


Wir empfehlen den Entscheidungsträger:innen in Politik und Verwaltung, das Fluchtgeschehen kontinuierlich zu beobachten und die Datengrundlagen zu verbessern, anstatt sich auf wenig belastbare Prognosen des Migrationspotenzials zu stützen. 


Die Fluchtmigration verteilt sich aktuell überwiegend auf die EU-Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen zur Ukraine und zu Moldawien, in sehr viel geringerem Umfang auch auf Russland. Über den Umfang der Weitermigration in andere EU-Mitgliedsstaaten liegen noch keine belastbaren Informationen vor, es ist aber schrittweise mit einer erheblichen Sekundärmigration in andere EU-Staaten, vor allem in Länder mit höheren Pro-Kopf-Einkommen und einer größeren Diaspora aus der Ukraine zu rechnen, dazu zählen Deutschland, Italien und Spanien. In Deutschland wurden vom 24.2.2022 bis zum 24.3.2020 246.000 Geflüchtete aus der Ukraine dokumentiert, von denen erst ein kleiner Teil registriert ist. Aufgrund des offenen Schengenraums und der Visumsfreiheit wird jedoch nur ein Teil der Fluchtmigration aus der Ukraine in Deutschland wie auch in anderen EU- Mitgliedsstaaten erfasst, so dass die tatsächliche Zahl deutlich höher sein dürfte.

Belastbare Daten zur demografischen und sozio-ökonomischen Struktur der Geflüchteten, die Deutschland erreicht haben, liegen noch nicht vor. Aus den vorliegenden Informationen können jedoch erste Schlussfolgerungen gezogen werden: Nach Angaben von UNICEF sind knapp 50 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine Kinder, die erwachsene Bevölkerung setzt sich überwiegend aus Frauen und Älteren zusammen. Das durchschnittliche Bildungsniveau in der Ukraine ist vergleichsweise hoch, der Anteil Geflüchteter mit tertiärer Bildung, d.h. der Absolvent:innen etwa von Hochschulen, ist sogar etwas höher als in Deutschland.

Allerdings sind die Bildungssysteme nicht vergleichbar; während es in Deutschland das duale Ausbildungssystem ist, sind es in der Ukraine Hochschulen, an denen viele Qualifikationen erworben werden. Zudem ist in der Ukraine der Anteil der Frauen mit tertiärer Bildung deutlich höher als jener der Männer. Auch die bereits in Deutschland lebende Bevölkerung aus der Ukraine hat mit rund 50 Prozent einen hohen Anteil von Hochschulabsolvent:innen.

Insgesamt ist zu erwarten, dass das Niveau der beruflichen Bildung unter den Geflüchteten aus der Ukraine – insbesondere der Anteil der Hochschulabsolvent:innen – deutlich höher als bei den meisten anderen Migrant:innengruppen in Deutschland ist. Das wird in vielen Dimensionen die Integration erleichtern, etwa beim Spracherwerb, bei der Integration von Kindern  – und Erwachsenen – in das deutsche Bildungs- und Weiterbildungssystem sowie bei der Arbeitsmarktintegration. Allerdings ergibt sich durch den hohen Kinderanteil vor allem für die geflüchteten Frauen eine hohe Belastung bei der Betreuungs- und Sorgearbeiten, die die Teilnahme an Sprach- und Integrationsprogrammen, Bildungsangeboten und die Arbeitsmarktbeteiligung erschweren können. •••



Vgl. ausführlich:

https://www.bim.hu-berlin.de/de/aktuelles/berichte/bim-paper-ukraine-2022-entwicklung-von-flucht-und-migration


Ansprechpartner

Prof. Dr. Herbert Brücker: herbert.bruecker@hu-berlin.de

 




2 Die Folgen der Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie



Die Mitgliedsstaaten der EU haben die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie (Richtlinie 2001/55/EG vom 20. Juli 2001) für Geflüchtete aus der Ukraine aktiviert. Die Richtlinie wurde vor dem Hintergrund von Flucht und Vertreibung während der Kriege in den Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawiens beschlossen, aber bislang in der EU nicht angewendet. Die Massenzustrom-Richtlinie ist durch in das deutsche Recht übernommen worden. Sie sieht u.a. vor, dass Staatsangehörige aus der Ukraine in der EU ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht von einem Jahr erhalten. Mit qualifizierter Mehrheit vom Europäischen Rat kann die Massenzustrom-Richtlinie auf bis zu drei Jahre verlängert werden. Sie verpflichtet die Mitgliedsstaaten der EU, die Geflüchteten angemessen unterzubringen und ihren Lebensunterhalt sowie die Gesundheitsversorgung zu sichern. Der Zugang zu selbständiger und abhängiger Beschäftigung soll gewährleistet werden. Ein Solidaritätsmechanismus innerhalb der EU – etwa Mittel aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds – ermöglicht eine finanzielle Kompensation jener EU- Mitgliedsstaaten, die Geflüchtete aufnehmen.

Die Richtlinie beinhaltet kein Recht auf freie Wahl des Wohnorts, so dass Geflüchtete sowohl EU-weit als auch innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten verteilt werden können. Allerdings unterliegen Staatsangehörige aus der Ukraine keiner Visumspflicht innerhalb der EU, so dass sie zunächst das Zielland de facto frei wählen . Eingriffe in die freie Wahl des Wohnortes ergeben sich dann erst bei einer Registrierung und der Beantragung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis. Dann können die Behörden eine Verteilung vornehmen.  Nach AufenthG ist die Verteilung über den Königsteiner Schlüssel auf die Länder und eine weitere Verteilung auf die Kommunen und den Erlass von Wohnsitzauflagen möglich (Abschnitt 3).

Die Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie hat, im Vergleich zur Dublin-III-Verordnung und anderen üblicherweise geltenden Regeln des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), eine Reihe von Vorteilen: Erstens erlaubt sie, in Verbindung mit der Visumsfreiheit, die Sekundärmigration aus Ländern an den Außengrenzen in andere EU-Mitgliedsstaaten. Dadurch wird die Aufnahmekapazität dieser Länder entlastet und eine effizientere Verteilung der Geflüchteten ermöglicht, die sich an Orten mit günstigeren Lebensbedingungen und höherer Arbeitsproduktivität niederlassen können. Zugleich verteilen sich die Kosten gleichmäßiger über die Mitgliedsstaaten der EU. Zweitens ermöglicht der Solidaritätsmechanismus die Entkopplung der Verteilung der Geflüchteten von den fiskalischen Kosten, die mit Unterbringung und Schutz verbunden sind. Dies führt zu einer fairen Verteilung der Kosten nach Wirtschaftskraft in den EU-Mitgliedsstaaten – ohne dass Geflüchtete auf Orte verteilt werden müssen, an denen sie nicht leben wollen. Drittens wird mit der Erteilung einer vorübergehenden Aufenthaltserlaubnis schnell Rechts- und Planungssicherheit für die Betroffenen hergestellt, wodurch eine langwierige Einzelfallprüfung in den Asylverfahren entfällt;  Lebensbedingungen und Integrationschancen können in allen gesellschaftlichen Bereichen und dem Arbeitsmarkt spürbar
verbessert werden.

Insgesamt wird durch die Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie das Risiko eines Kollapses der Europäischen Flucht- und Asylpolitik – wie 2015 geschehen – deutlich reduziert. Spielräume für eine humanitäre Aufnahme der Geflüchteten werden erweitert, Integrationschancen infolge einer effizienteren Verteilung über die EU- Mitgliedsstaaten verbessert.

Zugleich wirft die Massenzustrom-Richtlinie eine Reihe von Problemen auf, an denen Reformen bei
ihrer Umsetzung anknüpfen können:

  • Ungeklärt ist noch, ob es auch zu einer Umverteilung der Geflüchteten kommen wird, die sich bereits in der EU befinden, oder nur von neuankommenden Geflüchteten. Grundsätzlich ist eine freie Wahl des Ziellandes zwar vorzuziehen, aber Ressourcenengpässe bei Unterbringung, Versorgung und Verwaltung können vor dem Hintergrund der hohen Zahlen eine Umverteilung notwendig machen. Wir empfehlen vor diesem Hintergrund, folgende Politikmaßnahmen:

    Erstens die weitgehende Kompensation der Mitgliedsstaaten durch einen Ausgleichsfonds der EU, um die Verteilung der Geflüchteten von der Verteilung der Kosten zu entkoppeln. Die Kosten sollten entsprechend der Wirtschaftskraft und Bevölkerung der EU-Mitgliedsstaaten verteilt werden.

    Zweitens sollten nur dann Geflüchtete in andere EU-Staaten verteilt werden, wenn Kapazitätsbeschränkungen, etwa in den Ländern an der Außengrenzen der EU, dies unbedingt erforderlich machen. Bei der Verteilung der Geflüchteten aber sollten Familienbindungen, andere Netzwerke und ihre Präferenzen berücksichtigt werden. Grundsätzlich sollte die auf Umverteilung auf ein Minimum beschränkt werden.

    Drittens sind Integrationskriterien wie Arbeitsmarktchancen, Bildungschancen u.a. bei der Verteilung zu berücksichtigen.

  • Die Massenzustrom-Richtlinie gilt aktuell nur für Staatsangehörige der Ukraine und ihre Familienangehörigen. Drittstaatsangehörige dagegen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, sollen lediglich ein vorläufiges Aufenthaltsrecht erhalten, wenn sie nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können. Das soll für Menschen gelten, die in der Ukraine bereits als Geflüchtete einen Schutzstatus hatten, sowie für Personen, die sich länger in der Ukraine aufgehalten haben und nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können. Die Unterscheidung nach nationaler Zugehörigkeit ist problematisch, weil Menschen aus Drittstaaten genauso vom Krieg betroffen sind wie ukrainische Staatsangehörige. Zudem sind die Kriterien, die festlegen, ob jemand in sein oder ihr Heimatland zurückkehren kann noch unklar, mit Ausnahme der Gruppe, die bereits in der Ukraine als Geflüchtete einen Schutzstatus hatten. In der Praxis dürfte es sich überwiegend um russische Staatsangehörige und ausländische Studierende handeln, die keinen Schutzstatus haben, aber nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können oder wollen.

    Es empfiehlt sich deshalb aus pragmatischen, aber auch aus humanitären Gründen, bei Drittstaatsangehörigen, die sich längerfristig in der Ukraine aufgehalten haben, auf eine Einzelfallprüfung zu verzichten und ebenfalls ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht zu erteilen.

    Besonders zu berücksichtigen ist die Situation der internationalen Studierenden. Nach UNESCO-Angaben waren vor Kriegsbeginn etwa 60.000 internationale Studierende an ukrainischen Hochschulen eingeschrieben. Hauptherkunftsländer sind Indien, Marokko, Aserbaidschan, Turkmenistan, Ägypten und Nigeria. Während ein Teil der Studierenden von den jeweiligen Herkunftsländern evakuiert wurde, ist einem anderen Teil die Ausreise aus der Ukraine und die Einreise in ein Land der EU, zum Teil auf der Grundlage eines racial profiling, massiv erschwert worden. Einige konnten ein Land der EU bzw. Deutschland erreichen. Sie dürfen inzwischen – wie alle aus der Ukraine Geflüchteten – aufgrund der Ukraine-Aufenthalts-Übergangs-Verordnung (UkraineAufenthÜV) von Bundesinnenministerin Faeser vom 7. März 2022 unabhängig von der möglichen Zuerkennung des vorübergehenden Schutzes zumindest bis zum 23. Mai 2022 in Deutschland bleiben. Am 14.03.2022 verlautete in einer Mitteilung des Bundesinnenministeriums zudem, dass internationale Studierende aus der Ukraine vorübergehenden Schutz in Deutschland erhalten können, die „nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren“ können.

    Wir empfehlen, allen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchteten internationalen Studierenden ausreichend Zeit zur Orientierung gegeben und die Gelegenheit einzuräumen, sich ohne Ausreisedruck um die Fortsetzung ihres Studiums an einer deutschen oder einer Hochschule in einem anderen Mitgliedstaat der EU zu bemühen.

    Dafür müsste der lediglich bis zum 23. Mai 2022 erlaubte Aufenthalt verlängert werden. Außerdem benötigen die Universitäten auskömmliche Mittel zum Aus- und Aufbau der Beratungs- und Unterstützungsstrukturen, an die Betroffene sich in der Phase der Neuorientierung wenden und die sie kompetent begleiten können.

    Hierzu empfehlen wir im Einzelnen folgende Maßnahmen, die sich an alle Geflüchtete aus der Ukraine unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit richten:

    Erstens Öffnung von Programmen der Hochschulen zur Förderung und Unterstützung von aus der Ukraine geflüchteten Studierenden. Zweitens Bereitstellung von Stipendienangeboten der Stiftungen und Studienwerke sowie des DAAD. Drittens Auf- und Ausbau von Kompetenzzentren zur Orientierung, Beratung und Begleitung von aus der Ukraine vertriebenen internationalen Studierenden an den Hochschulen und bei zivilgesellschaftlichen Bildungsorganisationen. Viertens erleichterte Möglichkeiten der Studienaufnahme und unbürokratische Anerkennung fluchtbedingt lediglich unvollständiger Unterlagen und Nachweise. Fünftens Öffnung des BAföG zur Studienfinanzierung. Sechstens eine auskömmliche Finanzierung dieser Maßnahmen durch die zuständigen Wissenschafts- und Integrationsministerien der Länder, das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie das Auswärtige Amt (AA).

  • Die Massenzustrom-Richtlinie begrenzt die Aufenthaltserlaubnis zunächst auf ein Jahr. Das mag vor dem Hintergrund der ungewissen Lage in der Ukraine gegenwärtig gerechtfertigt sein. Unter Integrationsgesichtspunkten ist dieser Zeitraum zu kurz. Investitionen in den Spracherwerb sowie Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse brauchen längere Planungshorizonte, gleiches gilt für die Einstellung von Personen durch die Unternehmen.

    Wir empfehlen deshalb, sobald mehr Gewissheit über die Lage in der Ukraine herrscht, das vorläufige Aufenthaltsrecht analog zu anerkannten Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention auf drei Jahre zu erweitern und auch eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive (Niederlassungserlaubnis) zu eröffnen. •••

 


  

Ansprechpartner:in

Prof. Dr. Herbert Brücker: herbert.bruecker@hu-berlin.de
Prof. Dr. Manuela Bojadzijev: manuela.bojadzijev@hu-berlin.de

 


 

3 Verteilung der Geflüchteten auf die Länder und Kommunen in Deutschland

 

Die Anwendung der Massenzustrom-Richtlinie und ihre Umsetzung in deutsches Recht nach § 24 des Aufenthaltsgesetzes sieht die Möglichkeit der Verteilung der Geflüchteten aus der Ukraine nach dem Königsteiner Schlüssel oder einem anderen Verteilungsschlüssel über die Länder sowie innerhalb der Länder auf die Kommunen vor. Ein Recht zur freien Wahl des Wohnorts besteht nicht. Bundesinnenministerin Faeser hat gezögert, von diesem Umverteilungsmechanismus Gebrauch zu machen. Vor dem Hintergrund der starken räumlichen Konzentration der Geflüchteten auf Berlin und einige andere Großstädte soll nun aber der Königsteiner Schlüssel angewendet werden. Ausgenommen davon sind Geflüchtete, die eine private Unterkunft etwa bei Familienangehörigen gefunden haben. Auch kann der Königsteiner Schlüssel derzeit nur begrenzt umgesetzt werden, weil ein Großteil der Geflüchteten noch nicht registriert ist und die gemeldete Anzahl der Geflüchteten nur bedingt aussagekräftig ist.

Erstens wurden die Geflüchteten überdurchschnittlich auf strukturschwache Regionen mit hohen Arbeitslosenquoten verteilt. Dabei hat auch eine Rolle gespielt, dass Bayern und Baden-Württemberg  als wirtschaftsstärkste Flächenstaaten in Deutschland, weniger Geflüchtete als nach dem Königsteiner Schlüssel vorgesehen, aufgenommen haben. Dies hat die Beschäftigungschancen der Geflüchteten nachhaltig verschlechtert: Ein Anstieg der Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt in einer Region senkt die Beschäftigungswahrscheinlichkeit von Geflüchteten um fünf Prozentpunkte.

Zweitens hat die Anwendung der Wohnsitzauflage unter sonst gleichen Bedingungen im Vergleich zu Geflüchteten, die keinen Regulierungen unterliegen, die Beschäftigungsquoten um 11 Prozentpunkte gesenkt. Auch die Wahrscheinlichkeit, eine private Wohnung zu finden, ist bei Geflüchteten, die einer Wohnsitzauflage unterliegen, deutlich verringert, da sie ihre Optionen auf dem Wohnungsmarkt deutlich einschränkt. Demgegenüber zeigen empirisch gestützte Studien, dass bei einer systematischen Berücksichtigung von Integrationskriterien, vor allem der regionale Arbeitsmarktlage und von Arbeitsmarktmerkmalen, die Integrationschancen deutlich erhöht werden kann.

Die handelnden Akteur:innen in Politik und Verwaltung stehen gegenwärtig vor dem Zielkonflikt, dass eine kurzfristige Überwindung von Ressourcenengpässen bei Wohnraumversorgung, Registrierung und Leistungsgewährung durch eine breite Verteilung der Geflüchteten über die Fläche mittel- und langfristig die Lebensbedingungen und Integrationschancen der Geflüchteten beeinträchtigen kann.

Vor dem Hintergrund der starken Konzentration auf Berlin ist bei einer weiter stark steigenden Zahl von Geflüchteten eine Umverteilung nicht zu vermeiden. Wir empfehlen folgendes Vorgehen
:

  • die Minimierung der Umverteilung, indem die bisherige Praxis fortgesetzt wird, nur Geflüchtete umzuverteilen, die auf eine öffentliche Versorgung mit Wohnraum angewiesen sind, und zweitens möglichst nur neu ankommende Geflüchtete in den Verteilungsmechanismus einzubeziehen.
  • die systematische Berücksichtigung der Präferenzen der Geflüchteten, etwa in Hinblick auf Familienbeziehungen, Netzwerke zu Freunden und professionelle Kontakte sowie ihre Anforderungen an die Regionen im Hinblick auf die Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur, Gesundheitsversorgung, Integrationsangebote usw.
  • den Ersatz des Königsteiner Schlüssels durch einen anderen Verteilungsschlüssel, der Integrationskriterien wie z.B. die Chancen zur Arbeitsmarktintegration, die Kinderbetreuungsstruktur und andere Kriterien berücksichtigt.


Das gilt gleichermaßen für die Verteilung auf die Länder wie auf die Kommunen. Der Wohnungsmarkt und Kriterien wie die Miethöhe etc. sollten, vor dem Hintergrund der Engpässe auf den Wohnungsmärkten, auch ein Verteilungskriterium sein, aber die Verteilung nicht dominieren. Höhere Kosten der Unterkunft können sich mittelfristig durch verbesserte Lebensbedingungen und Integrationschancen auszahlen und nicht nur die Wohlfahrt der Betroffenen, sondern langfristig auch die Belastungen der öffentlichen Haushalte senken. Grundsätzlich gilt, dass die freie Wohnortwahl einen Wert an sich für die Geflüchteten hat und folglich ihre Wohlfahrt erhöht. Deshalb sollten Eingriffe in die Wohnortwahl minimiert und etwaige Wohnsitzauflagen zeitlich eng befristet werden. •••

 



Ansprechpartner:in

Prof. Dr. Herbert Brücker: herbert.bruecker@hu-berlin.de
Dr. Nihad El-Kayed: n.el-kayed@hu-berlin.de

 


 

4 Unterbringung und Wohnraumversorgung



Ähnlich wie 2015 und 2016 zählen die Unterbringung der Geflüchteten und ihre Versorgung mit angemessenem Wohnraum gegenwärtig zu den größten Herausforderungen, die akut zu erheblichen Teilen durch Familienangehörige, Freunde und Bekannte sowie durch die Zivilgesellschaft und eine große persönliche Hilfsbereitschaft aufgefangen werden.

Der Anteil der Geflüchteten, die aktuell privat untergebracht sind, wird gegenwärtig auf rund 50 Prozent geschätzt. Es kann gegenwärtig zwar noch nicht seriös prognostiziert werden, wie hoch die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine sein wird, aber schon jetzt ist absehbar, dass sehr ein großer Teil von ihnen durch die Kommunen untergebracht werden muss.

Zudem werden viele der gegenwärtig untergebrachten Geflüchteten auf öffentliche Unterstützung bei der Wohnraumversorgung angewiesen sein, weil die private Unterbringung bei Familienangehörigen, Freunden oder Akteur:innen der Zivilgesellschaft  temporären Charakter hat.

Anders als bei Asylbewerber:innen besteht für die Geflüchteten aus der Ukraine, die vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthaltG erhalten, zwar gegenwärtig keine Verpflichtung, in Gemeinschaftsunterkünften zu wohnen. Auch werden diejenigen, die privat untergebracht sind, von einer möglichen Umverteilung ausgenommen. Aber um eine langfristige private Unterkunft zu finden, fehlen oft die materiellen und andere Voraussetzungen.

Die Unterbringung erfolgt gegenwärtig zu erheblichen Teilen in Notunterkünften, wie z.B. in Tegel in Berlin. Ähnliche Massenunterkünfte werden gegenwärtig auch bereits in anderen deutschen Großstädten wie Hamburg und Köln errichtet. Die Forschung über die Fluchtmigration 2015 / 2016 zeigt, wie belastend eine gemeinschaftliche Unterbringung in Notunterkünften ist. Hier fehlt es an Privatsphäre,  Konflikte, Diebstähle und Übergriffen nehmen zu (Foroutan et al. 2016). Zugleich werden Spracherwerb, Bildung und Weiterbildung sowie die Chancen für die Aufnahme von Beschäftigungsverhältnissen erschwert.

Gerade in urbanen Ballungsräumen wie Berlin, auf das sich die Fluchtmigration gegenwärtig konzentriert, ist der Wohnungsmarkt stark angespannt. Allerdings ist es nicht zielführend, Geflüchtete zu verpflichten, in Regionen mit niedrigeren Durchschnittsmieten zu wohnen, weil in diesen Regionen Lebensbedingungen und Integrationschancen in der Regel deutlich schlechter sind als in urbanen Ballungsräumen (vgl. Abschnitt 3).

Vor diesem Hintergrund empfehlen wir:

  • Verzicht auf Wohnsitzauflagen, da diese die Optionen bei der Wohnungssuche und so die Wahrscheinlichkeit, eine private Wohnung zu finden, stark reduzieren.
  • Ausbau kommunaler Beratungs- und Unterstützungsangebote, um die Informations- und Suchkosten für die Geflüchteten bei der Wohnungssuche zu senken und die Wahrscheinlichkeit einer des Findens von Wohnungen auf den Wohnungsmärkten zu erhöhen.
  • Erweiterung der Angebote für Geflüchtete und gezielte Ansprache durch kommunale Wohnungsbaugesellschaften, Wohnungsbaugenossenschaften und Anbieter:innen von Sozialwohnungen.
  • Antidiskriminierungsmaßnahmen von Ländern und Kommunen, um der Benachteiligung Geflüchteter auf dem Wohnungsmarkt gegenzusteuern.
  • Langfristig hängt die Unterbringung von Geflüchteten von der Schaffung weiteren, vor allem günstigen Wohnraums in den urbanen Zentren ab. Dies kann zwar keine kurzfristigen Engpässe beseitigen, aber Städte und Großstädte sind langfristig gefordert, das Angebot günstigen Wohnraums in urbanen Ballungsgebieten zu sichern und stark auszubauen. •••

 



Ansprechpartnerinnen

Nihad El-Kayed n.el-kayed@hu-berlin.de
Leoni Keskinkılıç l.keskinkilic@hu-berlin.de
Anna Wiegand anna.wiegand@hu-berlin.de


 

5 Gesundheitsbezogene Herausforderungen und Infrastrukturen


Die große Zahl flüchtender Menschen aus der Ukraine wirft für die Gesundheitsforschung und -versorgung erneut Fragen nach der Verzahnung zwischen politischen, juristischen, sozialen, psychologischen und medizinischen Praktiken und Infrastrukturen auf.

Bereits jetzt ist absehbar, dass die aktuellen gesellschaftlichen, gesetzlichen und politischen Rahmenbedingungen zu anderen Praxen und Infrastrukturen beitragen werden, als dies um 2015 der Fall war.

So ist nicht nur in einschlägigen NGOs und spezialisierten Versorgungsprojekten, sondern auch in den Regelversorgungsstrukturen ein großes Engagement sowie eine große Offenheit und Vernetzungsbereitschaft für eine gelingende Akut- und Langfristversorgung zu beobachten. Aber auch auf politischer Ebene entsteht ein anderes Bild als 2015/2016: die Krankenversorgung der Geflüchteten soll nach einer gemeinsamen Stellungnahme der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) diesmal „schnell und unbürokratisch sichergestellt” werden. Mittelfristig soll diese im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG, Art. 4 und 6) finanziell abgedeckt werden. Jedoch zeigt die Forschung der letzten Jahre, dass für eine effiziente Integration der Geflüchteten in das Gesundheitssystem nicht allein die Finanzierung, sondern auch die Gestaltung des Zugangs zu zugesicherten Leistungen von großer Bedeutung ist. Gestützt auf die vorliegende empirische Evidenz empfehlen wir daher:

  • Die flächendeckende Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK): Die einheitliche Abwicklung der Gesundheitsversorgung über eine eGK verringert die Belastung von Patient:innen, Behandelnden und der lokalen Verwaltung und baut den existierenden regulativen Flickenteppich ab.
  • Ein zeitnaher und uneingeschränkter Anspruch auf Gesundheitsleistungen: Der Leistungsanspruch Geflüchteter sollte, anders als im AsylbLG vorgesehen, mit dem gesetzlich Versicherter gleichgestellt werden. Dies gilt insbesondere bei der psychologischen Regelversorgung.
  • Niedrigschwellige und mehrsprachige Informations-, Test und Impfangebote: Die vom Gesundheitsministerium angekündigten niedrigschwelligen Angebote zur COVID-19-Prävention sind zu begrüßen und angesichts geringer Impfraten in der Ukraine auf weitere Erkrankungen wie bspw. Masern auszuweiten.

Aus den Erkenntnissen zur bisherigen psychosozialen Versorgung von Geflüchteten ergeben sich zudem einige wichtige Schlussfolgerungen für die ambulante Psychotherapie von Geflüchteten aus der Ukraine:

  • Abbau von gesetzlichen und bürokratischen Hürden: Je weniger bürokratische und diskriminierende Restriktionen durch die Gesetzgebung bestehen, desto eher können potentiell traumatisierende Erfahrungen aufgefangen, Retraumatisierungen vermieden und für das Verarbeiten von Verlusten, Kriegsfolgen und resultierenden Belastungen notwendige (Behandlungs-) Räume ermöglicht werden.
  • Rückgriff auf Netzwerke als Ressource: Die in den letzten Jahren etablierte Vernetzung zwischen psychosozialen, gemeindepsychiatrischen, ambulanten und stationären Einrichtungen der Regelversorgung, Initiativen und NGOs bilden eine wichtige Ressource.
  • Existierende Sprachbarrieren müssen gemeinsames überwunden werden: Die noch immer ungenügenden finanziellen und qualifikationsbezogenen Infrastrukturen im Bereich der Sprachmittlung werden erneut eine Herausforderung darstellen. Eine reguläre Sprachmittlung sollte von Anfang an mitgedacht werden und eine Finanzierung durch die Krankenkassen politisch eingefordert und gesetzlich verankert werden
  • Psychosoziale Aspekte in der COVID-Prävention einbeziehen: Die psychosoziale Mehrbelastungen Geflüchteter kann zu einer Schwächung des Abwehrsystems führen und sollte bei der Impfberatung und Nachsorge berücksichtigt werden.

Für die Integration und das psychische Wohlbefinden der Geflüchteten aus der Ukraine wird zudem bedeutsam sein, wie die aufnehmende Gesellschaft sie wahrnimmt und welche Bilder und Narrative über die Geflüchteten verbreitet werden.

Ziel sollte es sein, stützende, tragende Beziehungen aufzubauen und zu etablieren, um die Ohnmacht und Hilflosigkeit in Folge des Krieges und der Flucht bewältigbar werden zu lassen.

Für die Praxis heißt das, dass es Kontakt- und Gesprächsangebote zur Erzählung des Erlebten braucht und dass der Fokus auf konkrete Handlungsmöglichkeiten im Hier und Jetzt mit entsprechenden konkreten, aktuellen Möglichkeiten liegen sollte. Die neuen Handlungsspielräume, die aktuell vor allem für geflüchtete Menschen aus der Ukraine diskutiert und umgesetzt werden, dürfen keine selektive Momentaufnahme bleiben.

Es bedarf einer nachhaltigen Öffnung gesundheitsbezogener Infrastrukturen, die nicht auf spezifische Gruppen geflüchteter Menschen begrenzt bleibt.

Vielmehr sollten wir die aktuelle Situation erneut zum Anlass nehmen, ein inklusives gleichberechtigtes Gesundheitssystem für alle Gruppen einzufordern und auszubauen, in der z.B. auch die gesundheitliche Versorgung für geflüchtete Menschen aus Drittstaaten bedingungslos möglich ist. •••


     

Vgl. ausführlich:

https://www.bim.hu-berlin.de/de/aktuelles/berichte/bim-paper-ukraine-2022-gesundheitsbezogene-herausforderungen


Ansprechpartner:innen

Dana Abdel-Fatah: abdelfad@hu-berlin.de
Prof. Dr. Ulrike Kluge: ulrike.kluge@charite.de
Judith Köhler judith.koehler@hu-berlin.de
Simon Ruhnke simon.ruhnke@hu-berlin.de




6 Empfehlungen für das Bildungssystem



In den letzten Jahren hat das deutsche Bildungssystem eine beachtliche Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Fluchtbiografie integriert. Nun steht es erneut vor der Herausforderung, kurzfristig eine große Zahl junger Geflüchteter aufzunehmen: Nach vorläufigen Schätzungen ist rund die Hälfte der Geflüchteten aus der Ukraine minderjährig. Nicht alle Erkenntnisse aus der Vergangenheit lassen sich auf die aktuelle Situation übertragen. Unter anderem ist das Ziel der Bildung der Geflüchteten aus der Ukraine im deutschen Kontext weniger eindeutig. Im Fall der in den Jahren um 2015 Geflüchteten wurde überwiegend eine zügige und vollständige Integration in das deutsche Bildungssystem angezielt, da eine schnelle Rückkehr für viele Herkunftsgruppen unmöglich schien. Viele aus der Ukraine Geflüchtete hoffen hingegen, bald zurückkehren zu können.

Vor dem Hintergrund des offenen Ausgangs des Kriegs scheint es ratsam, dass das Bildungsangebot beide Optionen berücksichtigt – eine baldige oder mittelfristige Rückkehr in die Ukraine, aber auch eine mittel- und langfristige Integration der jungen Geflüchteten in den deutschen Kontext. In Anbetracht dieser Erwägungen, der Erfahrungen der letzten Jahre und des Forschungsstands scheinen folgende Aspekte für die Bildungsintegration Geflüchteter aus der Ukraine zentral:

  • Den Kindern und Jugendlichen muss psychologische Unterstützung durch Fachkräfte angeboten werden, um sie bei der Verarbeitung traumatisierender Erlebnisse und Ängste zu unterstützen.
  • Die jungen Geflüchteten sollten möglichst schnell wieder eine Kindertageseinrichtung oder Schule besuchen können.
  • Geflüchtete Schüler:innen sollten pädagogische Angebote erhalten, die einen möglichst schnellen Erwerb der Unterrichtssprache Deutsch ermöglichen.
  • Sie sollten zudem die Bildungsangebote in ihrer Herkunftssprache erhalten.
  • Es sollte geprüft werden, ob den Schüler:innen, die kurz vor dem Schulabschluss stehen, Unterricht nach den ukrainischen Lehrplänen angeboten werden kann, der zum Erreichen ukrainischer Bildungsabschlüsse führt.
  • Eine von den anderen Schüler:innen vollständig getrennte Beschulung sollte höchstens übergangsweise erfolgen. Es spricht Vieles dafür, dass gemischte Beschulungsmodelle, in denen geflüchtete Schüler:innen eine Regelklasse besuchen, aber teilweise separat unterrichtet werden, besonders gut geeignet sind, um ihren spezifischen Bedürfnissen gerecht zu werden.
  • Es sollten möglichst schnell die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, das pädagogische Fachpersonal aus der Ukraine
  • Psychische Belastungen nach der Migration sollten reduziert werden. Dazu können eine adäquate Unterbringung, adäquate finanzielle Unterstützung bzw. Arbeitserlaubnis, psychologische Unterstützung der Betreuungspersonen und gelingende soziale Integration beitragen.
  • Für erwachsene Neueingewanderte sollten ausreichende und qualitativ hochwertige Sprachkurse zur Verfügung stehen, um einen zügigen Erwerb des Deutschen zu ermöglichen. Wichtig ist, dass Frauen mit Kindern Angebote erhalten, die sich mit ihren Betreuungsaufgaben vereinbaren lassen. •••




  

Vgl. ausführlich:

https://www.bim.hu-berlin.de/de/aktuelles/berichte/bim-paper-ukraine-2022-empfehlungen-bildungssystem


Ansprechpartner:in

Prof. Dr. Aileen Edele: aileen.edele@hu-berlin.de

 


 

7 Förderung der Arbeitsmarktintegration

 

Es ist noch völlig offen, ob und in welchem Umfang die Geflüchteten aus der Ukraine langfristig in Deutschland bleiben oder in ihre Heimatländer zurückkehren werden. Vor dem Hintergrund der offenen Entwicklung in der Ukraine haben viele Geflüchtete noch keine Erwartungen, auf denen sich Integrations- und Zukunftsperspektiven aufbauen ließen. In vielen Fällen geht es kurzfristig um Sicherheit und die Lösung vordringlicher Fragen wie z.B. Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Betreuung und Schulbildung der Kinder. Dennoch sollten schon jetzt die Weichen für eine mögliche Arbeitsmarktintegration gestellt werden.

Grundsätzlich gilt, dass die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten mehr Zeit als bei anderen Migrant:innen in Anspruch nimmt. In der Vergangenheit lag das vor allem an institutionellen Hürden, die jedoch seit 2016 pausiert wurden. Darüber hinaus sind Geflüchtete im Vergleich zu anderen Migrant:innen beispielsweise im Hinblick auf Sprachkenntnisse, Arbeitssuche, Anerkennung von Abschlüssen, persönliche Netzwerke schlechter auf den deutschen Arbeitsmarkt vorbereitet. Die Geflüchteten aus der Ukraine bringen mit dem hohen Bildungsniveau vergleichsweise günstige Voraussetzungen für die Arbeitsmarktintegration mit, allerdings kann sich die Familienkonstellation mit vielen Frauen, die Betreuungsaufgaben wahrnehmen müssen, hemmend auswirken. Es ist völlig offen, ob sich diese Konstellationen im Kriegsverlauf verändern werden. Die Integrationspolitik muss diese Konstellation von vorherein berücksichtigen. Im Einzelnen empfehlen wir folgende Politikmaßnahmen, um die Integration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen:

  • Die Anfangsverteilung der Geflüchteten auf die Regionen beeinflusst langfristig die Integrationschancen, d.h. auch noch nach fünf oder zehn Jahren. Insofern sollte, wenn in die Verteilung durch den Staat eingegriffen werden muss, von vornherein die Integrationschancen in den Arbeitsmarkt bei der räumlichen Verteilung berücksichtigt werden (siehe auch Abschnitt 2).
  • Die vorübergehende Aufenthaltserlaubnis sollte so früh wie möglich auf drei Jahre erweitert werden, um Anreize für den Spracherwerb und den Erwerb anderen länderspezifischen Humankapitals zu schaffen und die Anreize der Unternehmen für Einstellungen zu stärken.
  • Die Integration der Kinder in Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten sowie umfassende Betreuungsangebote sind für viele geflüchtete Frauen die Voraussetzung für die Arbeitsmarktintegration. Vor dem Hintergrund des hohen Anteils von geflüchteten Frauen aus der Ukraine mit Kindern und Kleinkindern ist dies vordringlich.
  • Deutsche Sprachkenntnisse sind in weiten Teilen des Arbeitsmarktes eine Schlüsselqualifikation, die die Beschäftigungschancen und Verdienste spürbar erhöhen. Das Angebot an Integrationskursen, aber auch weiterführenden Sprachprogrammen wie Berufssprachkurse sollte ausgebaut und von berufsbegleitenden Sprachprogrammen begleitet werden. Auch hier gilt, dass Kinderbetreuungsmöglichkeiten im Rahmen der Kurse die Teilnahme von Frauen erleichtert.
  • Zahlreiche Arbeitsmarktprogramme haben bei der Integration der Geflüchteten 2015 und 2016 Beschäftigungschancen und Einkommen nachhaltig erhöht. An diese Erfahrungen sollte angeknüpft werden. Allerdings haben in der jüngsten Vergangenheit Frauen seltener von diesen Möglichkeiten profitiert. Daher sollten mit diesen Angeboten verstärkt Frauen angesprochen werden.
  • Die Anerkennung von beruflichen Abschlüssen steigert erheblich die Integration in den Arbeitsmarkt und das Einkommensniveau von Migrant:innen. Das könnte vor dem Hintergrund eines hohen Anteils mit Hochschul- und anderen Berufsabschlüssen unter den Geflüchteten besonders relevant sein. Frühzeitige Beratung und Unterstützung bei der Anerkennung beruflicher Abschlüsse sind dafür notwendig.
  • Die Erfahrungen mit anderen Migrant:innen zeigt, dass der Erwerb weiterer Bildungsabschlüsse in Deutschland besonders dann hilfreich ist, wenn bereits Berufs- oder Hochschulabschlüsse im Ausland erworben wurden. Die Unterstützung von Bildungs- und Weiterbildungsangeboten könnte deshalb die Arbeitsmarktintegration fördern. Insbesondere für junge Erwachsene kann die Anwendung der Ausbildungsduldung (3+2 Regelung) die Motivation steigern, eine berufliche Ausbildung in Deutschland abzuschließen.
  • Viele Geflüchtete finden, ähnlich wie andere Migrant:innen, ihre Arbeitsstellen durch persönliche Netzwerke. Bei den Geflüchteten hat sich allerdings gezeigt, dass durch die öffentliche Arbeitsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit Beschäftigungschancen, Einkommen und Qualität der Beschäftigung steigen. Darum sollten die Geflüchteten frühzeitig in die Arbeitsvermittlung einbezogen werden.

Die Arbeitsmarktintegration wird dadurch gehemmt, dass die Geflüchteten aus der Ukraine wie andere Asylbewerber:innen in das Leistungssystem des Asylbewerberleistungsgesetzes einbezogen werden. Wenn sie von vornherein Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch II (Arbeitslosengeld II) erhalten würden, wären dagegen Arbeitsvermittlung und Leistungsgewährung in einer Hand. Die Erfahrungen mit den Geflüchteten des Jahres 2015 und 2016 zeigen, dass der Übergang in die Grundsicherung nach dem SGB II die Inanspruchnahme der Arbeitsvermittlung und von Arbeitsmarktprogrammen spürbar erhöht und die Arbeitsmarktintegration beschleunigt. •••      

 


 

Vgl. ausführlich:

https://www.bim.hu-berlin.de/de/aktuelles/berichte/bim-paper-ukraine-2022-arbeitsmarktintegration


Ansprechpartner:in

Prof. Dr. Herbert Brücker: herbert.bruecker@hu-berlin.de
Prof. Dr. Zerrin Salikutluk: Zerrin.Salikutluk@hu-berlin.de

 


 

8 Zivilgesellschaftliches Engagement stärken



In immer mehr deutschen Kommunen kommen Geflüchteten aus der Ukraine an. Besonders der Berliner Hauptbahnhof ist zu einem zentralen Ankunftsort geworden. Kaum trafen die ersten Meldungen über ankommende Geflüchtete ein, wurden die ersten zivilgesellschaftlichen Initiativen und Vereine vor Ort aktiv. Viele Initiativen haben sich bereits im Sommer 2015 engagiert und knüpfen nun an Netzwerke und Strukturen von damals an. Wie 2015 zeigt sich auch heute wieder eine Zivilgesellschaft, die Geflüchteten schnell und unkompliziert beim Ankommen unterstützt und dabei auch öffentliche Versorgungslücken deckt. Beispielsweise werden Informationen bereitgestellt und Fahrkarten, SIM-Karten, Decken, Kleidung, Lebensmittel, Hygieneartikel und Unterbringungsmöglichkeiten organisiert, um Geflüchtete zu unterstützen.

Im Vergleich zu 2015 zeigen sich Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten. Im Jahr 2015 war das zivilgesellschaftliche Engagement wenig vernetzt, Sprachbarrieren erschwerten Unterstützungsangebote und spezielle Bedarfe etwa von vulnerablen Gruppen wurden nicht ausreichend berücksichtigt.

Diesmal waren die zivilgesellschaftlichen Akteur:innen hingegen imstande, in kürzester Zeit verschiedenste Bedarfe und Sprachen abzudecken. Ähnlich wie im Jahr 2015 sind auch aktuell Personen mit eigener Flucht- oder Migrationserfahrung stark unter den Ehrenamtlichen vertreten sind.

Die Kommunen und Länder stoßen gegenwärtig in vielen Bereichen an Ressourcenengpässe – bei der Information, Registrierung, Auszahlung von Leistungen, Versorgung mit Wohnraum, Gütern des täglichen Bedarfs und der Gesundheitsversorgung. Diese Lücken füllen derzeit neben Verwandten und Freunden der Geflüchteten zu erheblichen Teilen Akteur:innen der Zivilgesellschaft. Dies wirft die Frage auf, wann diese immensen Unterstützungsleistungen ermüden.

Um das zivilgesellschaftliche Engagement zu stärken, die kurzfristige Bewältigung von Versorgungsengpässen sicherzustellen, aber auch die mittel- bis langfristigen Aufgaben nicht aus dem Blick zu verlieren, kann an die Erfahrungen von 2015 angeknüpft werden.

Im Einzelnen empfehlen wir:

  • Staatliches Handeln sollte Geflüchtete und Ehrenamtliche in die Identifikation von Bedarfen, Hemmnissen und Herausforderungen einbeziehen, denen Geflüchtete beim Ankommen und ihrer weiteren Integration ausgesetzt sind. So können Hindernisse beim Zugang zu wichtigen Ressourcen schneller identifiziert und beseitigt werden.
  • Mehrsprachige Angebote auf lokaler Ebene (z.B. bei Beratungsangeboten, in der Sozialarbeit, in Schulen) müssen schnell ausgebaut werden,B. durch die Einstellung mehrsprachigen Personals.
  • Angebote in der ehrenamtlichen und zivilgesellschaftlichen Arbeit für Geflüchtete sollten eng an den Bedarfen von Geflüchteten, im Dialog und partnerschaftlich mit diesen entwickelt werden.
  • Neben der notwendigen Unterstützung von Geflüchteten bei alltäglichen und bürokratischen Hürden sollte eine Teilhabe von Geflüchteten am demokratischen Gemeinwesen befördert werden. Zivilgesellschaftliche Akteur:innen könnten beim Aufbau von Selbstorganisierungen unterstützen. Hier können etablierte Migrant:innenselbstorganisationen geeignete Kooperationspartner:innen sein. Kommunen könnten Selbstorganisationen durch die Bereitstellung von Räumlichkeiten und anderen Ressourcen unterstützen.
  • Zur effektiven Einbringung der vorhandenen zivilgesellschaftlichen Ressourcen bedarf es der weiteren Stärkung von Austausch und Vernetzung zwischen zivilgesellschaftlichen und ehrenamtlichen Akteur:innen, z.B. durch „Good-Practice-Börsen“ oder runde Tische. 

  • Bund, Länder und Kommunen, aber auch Wohlfahrtsverbände und andere Träger könnten zivilgesellschaftliche Initiativen niedrigschwellig durch Mikroförderung unterstützen. Das könnte in Form von Ehrenamtsstiftungen geschehen. •••



Ansprechpartnerinnen


Nihad El-Kayed: n.el-kayed@hu-berlin.de
Leoni Keskinkılıç: l.keskinkilic@hu-berlin.de
Anna Wiegand: anna.wiegand@hu-berlin.de


 

 

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