Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)

Entwicklung von Flucht und Migration

Beitrag zum BIM-Paper vom 25.3.2 über die Folgen des Kriegs in der Ukraine für Migration und Integration / Langversion



Von Prof. Dr. Herbert Brücker



 

Entwicklung von Flucht und Migration


Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine am 24.2.2022 mussten nach den Schätzungen von UNHCR (2022) 10 Millionen Menschen fliehen oder wurden vertreiben. Davon sind rund 6,3 Millionen Binnenvertriebene. Vom 24.2.2023 bis zum 23.3.2022 haben 3,7 Millionen Menschen die Ukraine verlassen (UNHCR 2022). Der Höhepunkt der Fluchtbewegungen wurde zehn Tage nach Kriegsausbruch mit einer täglichen Flucht von rund 210.000 Personen erreicht, gegenwärtig stabilisieren sich die Zahlen in einer Größenordnung von 60.000 bis 70.000 Personen pro Tag. Damit wurde der Umfang der Fluchtmigration in die EU der beiden Jahren 2015 und 2016 mit insgesamt 2,4 Millionen Geflüchteten (Eurostat 2022) bereits vierzehn Tage nach Beginn des Krieges übertroffen.

Starke Konzentration auf die Länder an den EU-Außengrenzen

Die Migration konzentriert sich zunächst auf die EU-Staaten mit einer Außengrenze zur Ukraine, vor allem auf Polen und Rumänien, auf Moldawien und Russland. Aufgrund der Visumsfreiheit für Staatsangehörige aus der Ukraine und der offenen Grenzen im Schengenraum wird die weitere Migration in die anderen Mitgliedsstaaten der EU nur unvollkommen erfasst, so dass gegenwärtig keine belastbare Angaben über die Verteilung der Geflüchteten aus der Ukraine über die EU-Mitgliedsstaaten vorliegen.

UNHCR veröffentlicht aufgrund der unvollkommenen Erfassung der Weitermigration nur die Zahlen der Zuzüge in die Nachbarstaaten und verzichtet auf eine Abbildung der Geflüchtetenzahlen in der EU insgesamt. Es spricht viel dafür, dass der Großteil der Geflüchteten sich gegenwärtig weiter in den direkten Nachbarstaaten der EU aufhält.

Auf diese Länder war bereits vor dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs ein Großteil der Migrantinnen und Migranten aus der Ukraine konzentriert. Hier existieren die Netzwerke von Familienangehörigen, Freunden und Bekannten, wo viele Geflüchtete kurzfristig unterkommen können, die Sicherheit garantiert ist und die Grundbedürfnisse abgedeckt werden können.

Es spricht viel dafür, dass die Weitermigration in andere EU-Mitgliedsstaaten im Zeitverlauf zunehmen wird, wenn sich die Erwartungen stabilisieren und nicht nur vorübergehender Schutz, sondern auch längerfristige Bleibeperspektiven bei den Migrationsentscheidungen an Gewicht gewinnen. In der Vergangenheit konzentrierte sich die Migration aus der Ukraine in der EU auf Polen (bis zu 1,5 Millionen Personen), Italien (229.000), Tschechien (143.000), Deutschland (133.000) und Spanien (108.000) (Eurostat 2022). Diese Rangordnung deckt sich auch mit den geäußerten Migrationsintentionen der Bevölkerung aus der Ukraine vor dem Krieg.

Allerdings ist es recht wahrscheinlich, dass sich diese Verteilung mit der Zeit verändert und die EU-Staaten mit einem höheren Pro-Kopf-Einkommen, darunter auch Deutschland, als Zielländer der Fluchtmigration aus der Ukraine an Bedeutung gewinnen.


Unsicherheit über den Umfang der Fluchtmigration nach Deutschland


Die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine, die sich zur Zeit in Deutschland aufhalten, ist nicht genau bekannt. Staatsangehörige aus der Ukraine können sich zunächst bis zu 90 Tagen ohne Anmeldung in den Mitgliedsstaaten aufhalten, diese Frist kann zudem verlängert werden. Bislang dürfte sich erst ein kleiner Teil der Geflüchteten aus der Ukraine angemeldet haben. Die bislang vorliegenden Schätzungen beruhen auf Zählungen der Bundespolizei, die u.a. an den Außengrenzen, Bahnhöfen, in Not- und Erstaufnahmeeinrichtungen Erhebungen durchführen.

Nach Angaben des Bundesministeriums sind vom 24.2.2022 bis zum 23.3.2022 232.000 Einreisen von ukrainischen Staatsangehörigen dokumentiert (Mediendienst Integration 2022). Die tatsächliche Zahl dürfte deutlich darüber liegen. Erst ein kleiner Teil der Geflüchteten aus der Ukraine ist bisher bei den Kommunen und Ausländerbehörden registriert.


Unsicherheit der Migrationsprognosen

Die Frage, wie viele Menschen aus der Ukraine in die EU und nach Deutschland flüchten werden, ist für die Migrations- und Integrationspolitik von hoher Relevanz. Auf eine entsprechend hohe Resonanz sind erste Schätzungen des Migrationspotenzials aus der Ukraine gestoßen.

So schätzt der Hohe Kommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen das Fluchtpotenzial aus der Ukraine auf bis zu vier Millionen Personen (UNHCR 2022), UNICEF auf bis zu fünf Millionen (Reuters, 25.02.2022) und die Europäische Kommission beruft sich in dem Entschließungsantrag zur Aktivierung der Massen-Zustrom Richtlinie auf Schätzungen von 2,5 bis 6,5 Millionen Geflüchtete bzw. Vertriebene (Europäische Kommission 2022).

Frank Düvell und Iryna Lapshina schätzen in verschiedenen Szenarien die Zahl der geflüchteten auf bis zu acht Millionen Menschen (Düvell/Lapshina 2022) und Gerald Knaus von dem Think Tank Europäische Stabilitätsinitiative prognostiziert eine Flucht von 10 Millionen Menschen (Spiegel Online 2022). Die letzten beiden Schätzungen entsprechen einem Fünftel bzw. einem Viertel der Bevölkerung der Ukraine.

Die akademische Literatur zur quantitativen Analyse von Fluchtbewegungen erklärt den Umfang der Fluchtmigration durch Faktoren wie die Zahl der Opfer von Krieg und anderen bewaffneten Konflikten, den Grad des ausgeübten politischen Terrors auf die Bevölkerung, die Einschränkung politischer Freiheitsrechte auf Seiten der Sendeländer sowie den Zugang zum Territorium, Ausgang und Länge der Asylverfahren, Sicherheit, Versorgung von Asylbewerbern sowie einige wirtschaftliche Faktoren (vgl. u.a. Hatton 2015, 2017, Bertoli et al. 2022).

Diese Studien tragen dazu bei, ein besseres Verständnis der wichtigsten Ursachen der Fluchtmigration zu entwickeln, sie sind aber bislang aus guten Gründen nicht dazu benutzt worden, Fluchtmigration zu prognostizieren. Dazu sind die Konstellationen der jeweiligen Konflikte und das Zusammenspiel mit Faktoren auf Seiten der potenziellen Aufnahmeländer zu einzigartig. Gleiches gilt auch für Analogieschlüsse aus anderen historischen Fällen, in der Regel sind die Bedingungen nicht vergleichbar.

In der Ukraine kommt hinzu, dass gegenwärtig noch hohe Ungewissheit über die künftige Entwicklung besteht (vgl. auch Brücker 2022a): So ist völlig unklar, wie sich das Kriegsgeschehens weiter entwickeln wird, wie viele Opfer der Krieg fordert, ob das Land teilweise oder ganz besetzt wird, ob die Möglichkeit zur Binnenmigration besteht oder nicht.

Wir kennen auch nicht die Situation nach dem Ende des Krieges, etwa den Grad der Verfolgung oder politischen Terrors der ausgeübt wird, ob größere Bevölkerungsgruppen vertrieben werden usw. Offen ist, welche Folgen es haben könnte, wenn zu einem späteren Zeitpunkt auch Männer das Land verlassen können. Berücksichtigt werden muss auch, dass die historische Situation in vielen Dimensionen nicht mit anderen Kriegen vergleichbar ist: Bei den Kriegen in Tschetschenien und Transnistrien sind große Teile der Bevölkerung in andere Regionen Russlands bzw. nach Georgien geflohen, das heißt es hat sich im weiteren Sinne um Binnen- und nicht internationale Migration gehandelt.

Der Syrien-Krieg ist bisher in den Dimensionen der Zerstörung, der hohen Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung und dem Grad der Ausübung politischen Terrors zumindest gegenwärtig noch nicht mit dem Ukraine-Krieg vergleichbar. Schließlich ist es historisch der erste Fall, in dem in einem Land an der Außengrenze der EU Krieg geführt und zugleich durch die Visumsfreiheit und die Erteilung einer vorübergehenden Aufenthaltserlaubnis die Grenzen der EU für die Aufnahme von Geflüchteten völlig offen stehen.

Vor diesem Hintergrund ist aus wissenschaftlicher Sicht eine quantitative Prognose des Fluchtpotenzials, auch in Form von Szenarien, nicht möglich (Brücker 2022; Brücker et al. 2022). Bei den vorliegenden Szenarien handelt es sich um Experteneinschätzungen, die zutreffen können, aber nicht müssen. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich für die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung vor allem das Migrationsgeschehen genau zu beobachten und die vorliegenden Datengrundlagen fortlaufend zu verbessern und daraus Schlussfolgerungen für die Migrations- und Integrationspolitik zu ziehen und sich nicht auf mittelfristige Schätzungen des Migrationspotenzials zu verlassen.

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Literatur