Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)

28.10.2021: „Wir haben eine völlig andere Situation als 2015“

Herbert Brücker über Fluchtmigration aus Afghanistan und die Rolle der neuen Bundesregierung


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Laut einer Anfang dieser Woche veröffentlichten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) sind 40 Prozent der in Deutschland lebenden Afghaninnen und Afghanen erwerbstätig. Außerdem wird prognostiziert, dass zukünftige Geflüchtete aus Afghanistan bessere Voraussetzungen als die früher zugezogenen Schutzsuchenden mitbringen.

Anlässlich der neuen Studie hat BIM-Mitarbeiter Wolf Farkas mit Prof. Dr. Herbert Brücker über Timing in der Forschung, die aktuelle Situation in Afghanistan, Kosten der Integration und politische Schlussfolgerungen der Studienergebnisse gesprochen.

Herr Professor Brücker, drei Monate nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist jetzt eine Studie des IAB erschienen, die erste Einschätzungen der zu erwartenden Migrations- und Integrationsdynamik in Deutschland liefert, und an der Sie in einem sechsköpfigen Forschungsteam beteiligt waren. Drei Monate – ist das langsam oder schnell?

Für die Forschung sehr schnell, für die Information von Politik und Öffentlichkeit zu langsam. Gute Politikberatung sollte natürlich immer evidenzbasiert sein, aber die Politik kann auch nicht auf Erkenntnisse der Forschung warten, bis die Ereignisse abgeschlossen sind. Evidenzbasierte Politikberatung muss deshalb nicht nur sorgfältig über den Stand der empirischen Erkenntnis informieren, sondern auch schnell sein. Es gehört zum Ethos guter Forschungseinrichtungen, dies auch in Krisensituationen zu leisten. Zugleich brauchen die Verfahren der Qualitätssicherung, wie auch im Falle unseres Berichts, ihre Zeit.

Im Falle von Afghanistan habe ich bedauert, dass wir – wie auch andere Forschungseinrichtungen – die Entwicklungen nicht schon länger und genauer im Sinne einer vorausschauenden Forschung beobachtet haben. Viele der heute eingetretenen Entwicklungen waren spätestens seit der Jahreswende erkennbar. Auf der anderen Seite kann die Migrationsforschung nicht alle Krisenherde der Welt beobachten. Schließlich war die Forschung in Afghanistan und den Nachbarstaaten durch die Sicherheitslage, rechtliche und andere Beschränkungen der Forschungstätigkeit erschwert, so konnte das BIM eine gemeinsam mit der DeZIM-Forschungsgemeinschaft geplante Haushaltsbefragung von geflüchteten Afghaninnen und Afghanen im Iran nicht realisieren. Das hätte uns jetzt sehr geholfen.

Timing ist also immer auch ein bisschen Glückssache …

… ja, und das große Beispiel ist hier der Sommer der Flucht 2015. Die Entwicklung hatten wir damals schon im Frühsommer erahnt, die Gelder eingeworben und die dafür notwendige Forschungsinfrastruktur aufgebaut. Dadurch konnten wir – das IAB gemeinsam mit dem Forschungszentrum des BAMF und dem Sozio-ökonomischen Panel – schon 2016 mit einer Befragung von Geflüchteten ins Feld gehen, die repräsentative Aussagen über die Geflüchteten zulässt, die 2015 und in den Vorjahren zu uns gekommen sind.
Auf diesem Weg ist ein weltweit einmaliger Datensatz entstanden. Dafür war nicht nur der Aufbau einer effizienten Forschungsinfrastruktur, sondern auch die Änderung eines Bundesgesetzes notwendig. Im Herbst 2016 konnten wir erste Ergebnisse publizieren. Das ist unter Forschungsgesichtspunkten Schallgeschwindigkeit – auch wenn Politik und Öffentlichkeit viele unserer Erkenntnisse früher gebraucht hätten.

Lässt sich die aktuelle Situation in Afghanistan und die noch zu erwartende Fluchtmigration mit dem Sommer 2015 vergleichen? Kurz nach der Machtübernahme der Taliban in diesem Jahr wurden Stimmen laut, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Nein. Empirisch ist der Vergleich nicht haltbar, weil wir eine völlig andere Situation als vor sechs Jahren haben. Deutschland hat, zusammen mit der Europäischen Union, alles dafür getan, die Außengrenzen der EU zu schließen. Stichworte sind die EU-Türkei-Erklärung und die Schließung der Westbalkanroute. Deshalb ist es inzwischen unmöglich geworden, Deutschland auf den traditionellen Fluchtrouten zu erreichen. So verhindert die Türkei aktiv, dass Geflüchtete die Küsten oder die Landgrenzen zur EU erreichen. Geflüchtete können sich in der Türkei nicht frei bewegen. Schließlich hat die Türkei inzwischen auch Grenzen zu Syrien und dem Iran geschlossen und damit die Fluchtwege für Syrer:innen, Afghan:innen und andere Geflüchtete verschlossen.

Gleichzeitig ist schon länger zu beobachten, dass Pakistan und Iran keine Geflüchteten aus Afghanistan in ihr Land lassen, sondern im Gegenteil versuchen, geflüchtete Afghan:innenen, die sich teilweise schon Jahrzehnte

„Es völlig illusorisch anzunehmen,
dass für Menschen aus Afghanistan
eine Fluchtmigration in die EU
in größerem Maßstab möglich ist.“

in diesen Ländern aufhalten, durch Zwangsmaßnahmen zur Rückkehr zwingen. Auch die nördlichen Nachbarstaaten haben ihre Grenzen für Geflüchtete aus Afghanistan geschlossen, mit Tadschikistan als einziger Ausnahme. Aus diesen Gründen ist es völlig illusorisch anzunehmen, dass für Menschen aus Afghanistan eine Fluchtmigration in die EU in größerem Maßstab möglich ist. Die Evakuierung sogenannter Ortskräfte und die Bereitschaft westlicher Länder, diese aufzunehmen, ist ein Sonderfall. Aber da reden wir von 100.000 oder vielleicht auch 150.00 Menschen weltweit. Vielmehr wird es nicht werden.

Die Aussage, dass 2015 sich nicht wiederholen dürfe, hat aber auch einen normativen Charakter: Gemeint ist wohl, dass Deutschland und die EU keine Geflüchteten aufnehmen sollen. Wer diese Meinung vertritt, muss dann aber die Frage beantworten: Was wollen wir tun, um den Menschen, die in Afghanistan jetzt von Verfolgung und Gewalt betroffen sind, Schutz zu gewähren? Eine Antwort auf diese Frage steht bisher aus. Aus theoretischer Perspektive ist die Gewährung von Schutz ein öffentliches Gut. Deshalb steigt die Bereitschaft Schutz zu gewähren, wenn die Asyl- und Fluchtpolitik koordiniert und die Lasten fair verteilt werden. Es braucht deshalb eine Antwort der internationalen Gemeinschaft. Nicht nur der EU und Deutschlands, sondern auch der anderen Länder, die dort ihre Truppen eingesetzt haben, und nicht zuletzt auch der Nachbarstaaten. Momentan gibt es diese Antwort es nicht. Es wäre schon viel erreicht, wenn eine Koalition der Willigen voran ginge.

In Ihrer neuen Studie gibt es Positives zu vermelden. So wird etwa die Integrationsfähigkeit zukünftiger nach Deutschland Geflüchteter aus Afghanistan als überdurchschnittlich hoch eingeschätzt. Woran liegt das?

Bei den zu Geflüchteten aus Afghanistan die jetzt nach der Machtergreifung der Taliban kommen, handelt es sich um Gruppen, die hohen Verfolgungsrisiken ausgesetzt sind. Das sind Menschen, die entweder als sogenannte Ortskräfte die alliierten Truppen oder die Träger der Entwicklungszusammenarbeit unterstützt haben. Oder Menschen des öffentlichen Lebens, Journalist:innen, Politiker:innen, Wissenschaftler:innen, Menschenrechtsaktivist:innen. Sie alle sind natürlich weit überdurchschnittlich gebildet und verfügen weit überdurchschnittlich über Ressourcen. Neben materiellen Dingen sind das vor allem jene, die man Social Capital nennt: Netzwerke, persönliche Verbindungen. Deshalb haben diese Menschen auch viel größere Chancen und Fähigkeiten, sich in Deutschland beispielsweise erfolgreich in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

„Wir erwarten, dass die Integrations-
chancen der Afghan:innen, die noch
kommen, sehr viel besser sind.“

Und insofern lässt sich diese Gruppe nicht vergleichen mit den Afghan:innen, die bereits in Deutschland leben. Auch diese haben sich in den letzten fünf Jahren recht erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert. Wir erwarten aber, dass die Integrationschancen der Afghan:innen, die gegenwärtig kommen, noch sehr viel besser sind.

Wie steht es rechtlich um Menschen aus Afghanistan, wenn sie aktuell nach Deutschland kommen?

Diejenigen, die jetzt evakuiert worden sind, müssen überwiegend nicht in das Asylverfahren. Sondern bekommen, vergleichbar mit Arbeitsmigrant:innen, eine Aufenthaltserlaubnis. Unser Rechtssystem lässt das zu.

Wer ins Asylverfahren muss, dürfte wiederum exzellente Chancen auf eine Anerkennung haben. Afghanistan dürfte jetzt, unter Führung der Taliban, zu den schlimmsten Terrorregimen der Welt gerechnet werden. Die individuellen Verfolgungsrisiken gelten als sehr hoch, ein Rechtsstaat, der die Menschen vor willkürlicher Gewaltanwendung schützt, existiert nicht. Folglich dürfte die Wahrscheinlichkeit, als Schutzsuchender anerkannt zu werden, in Deutschland jetzt sehr hoch sein.

Ein wichtiger Punkt dabei ist: Das führt zu einer erheblichen Verbesserung der Situation jener für Afghan:innen, die bereits in Deutschland sind, aber nur geduldet werden oder sich noch in den Asylverfahren befinden. Hier steigen die Chancen beträchtlich, dass sie anerkannt werden und hierbleiben können. Da reden wir von sechzig- bis siebzigtausend Menschen – deren Rechts- und Aufenthaltsstatus sich schlagartig verbessern könnte.

Schauen wir noch einmal zurück. Von den knapp 900.000 Menschen, die im Sommer 2015 nach Deutschland gekommen sind, leben aktuell noch etwa 650 000 hier. Wie hat sich deren Situation entwickelt?

Knapp die Hälfte hat einen Job. Was im Übrigen auch dazu führt, dass jedes Jahr die Ausgaben sinken, die wir als Staat dafür tragen müssen. Integration kostet Geld. Einerseits. Die Summen aber sind, gemessen  an dem Wert, den der Schutz für die Betroffenen hat, aus meiner Sicht nicht besonders hoch. Jede Einwohnerin bzw. Einwohner in der Bundesrepublik gibt nach einer Studie, die wir gemeinsam mit dem DIW erstellt haben, gegenwärtig etwa 50 Euro pro Jahr für die Geflüchteten aus, die 2015 zu uns gekommen sind.

Rechnet man das weiter, erreichen wir nach 10 bis 15 Jahren, je nach Migrationsverlauf, den Breakeven-Point, an dem ehemals Geflüchtete im Durchschnitt mehr Steuern und Abgaben bezahlen, als sie im Durchschnitt an Transferleistungen des Staates und anderen individuell zurechenbaren Ausgaben beispielsweise für Bildung und Sprachkurse beziehen. Über den gesamten Lebensverlauf und unter Berücksichtigung von nicht persönlich zurechenbaren Ausgaben wie die Verkehrsinfrastruktur werden die öffentlichen Ausgaben die Einnahmen übersteigen. Humanitäre Migration ist, anders als Arbeitsmigration, kein Geschäft.

„Die Gewährung von Schutz ist ein humanitärer Akt – und wird nicht zur Erzielung von Gewinnen betrieben.“

Das halte ich für legitim; sie darf Geld kosten. Die Gewährung von Schutz ist ein humanitärer Akt – und wird nicht zur Erzielung von ökonomischen Gewinnen betrieben. Aber wenn wir durch erfolgreiche Integrationspolitik die fiskalischen Kosten der Schutzgewährung senken, steigen natürlich die Handlungsspielräume für humanitäre Politik.

Ausgehend von Ihrem aktuellen Forschungsbericht – welche politischen Schlussfolgerungen würden Sie der neuen Bundesregierung an die Hand geben wollen?

Als Erstes und Wichtigstes: die Entwicklung sicherer Fluchtwege in die EU und nach Deutschland. Die momentane Abschottung, die wir betreiben, führt zu einem Dominoeffekt: Auch in anderen Ländern werden die Schutzstandards gesenkt und die Grenzen geschlossen.

„Wir dürfen die Schutzgewährung nicht auf Dritte verlagern. Die Bundesregierung wird dabei eine wichtige Rolle spielen.“

Das ist eine dramatische Entwicklung, die wir nur verhindern können, wenn wir auch selbst Menschen aufnehmen und die Schutzgewährung nicht auf Dritte verlagern. Die neue Bundesregierung wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Aber nicht die einzige. Es ist eine europäische Frage. Und es ist eine globale Frage. Dabei wird es schwierig sein, Mehrheiten zu finden. Ehe ein europaweit und weltweit reformiertes Fluchtsystem existiert, kann Deutschland schon jetzt, freiwillig, Geflüchtete aufnehmen. Wenn es will. Vorstellbar ist auch eine Koalition der Willigen, also von Ländern, in denen die Bevölkerungen ähnliche Wertvorstellungen teilen und die auch bereit sind, Schutz zu gewähren.

Als Zweites kommt die Integrationspolitik. Da haben wir in der Vergangenheit schon vieles richtig gemacht. Vieles geht natürlich noch viel besser. Es ist etwa sinnvoll, so früh wie möglich mit der Integrationspolitik zu beginnen. Mit Sprachkursen, Bildung, arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, guter Gesundheitsversorgung. Je früher wir damit beginnen, desto größer die Erfolge.

Und als letzten Punkt sehe ich hier, dass wir die Geflüchteten überdurchschnittlich in Regionen verteilt haben, wo die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch ist. Auch haben wir gelernt, dass die Wohnsitzauflage zu einer Verschlechterung der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktchancen führt. Stattdessen würde es enorm helfen, mehr Menschen in prosperierende Regionen anzusiedeln.

Zum Schluss die Frage an Sie: Was kann man Ihrer Meinung nach als Einzelner oder Einzelne tun, um die Menschen, die in Afghanistan in Not sind, zu unterstützen?

Was fehlt, ist Öffentlichkeit über Afghanistan. Wir wissen unglaublich wenig, was dort vor sich geht. Je mehr wir über die Vorgänge dort Bescheid wissen, je mehr wir über die Schicksale der Menschen erfahren, desto größer ist die Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen. Ohne Empathie geht es nicht.

Gerade steuern wir in Afghanistan auf eine Versorgungs- und Ernährungskrise zu. Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als humanitäre Hilfe zu leisten. Unabhängig vom dortigen Regime. Wir brauchen als Gesellschaft einen langen Atem. Um uns um diejenigen zu kümmern, die schon hier sind und vielleicht den Mut verloren haben. Und um diejenigen, die noch kommen. Es ist immer ein Gemisch, politische Maßnahmen von staatlicher Seite und das Engagement Einzelner und der Zivilgesellschaft. Man kann nicht sagen, was wichtiger ist.
Wir brauchen beides.

Die neue Studie „Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan: Erfahrungen aus der Vergangenheit und erste Einschätzungen der Folgen für Migration und Integration“ von Herbert Brücker, Christoph Deuster, Tanja Fendel, Philipp Jaschke, Sekou Keita, Teresa Freitas-Monteiro ist abrufbar unter: http://doku.iab.de/forschungsbericht/2021/fb0921.pdf

 

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