Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)

Politische Kommunikation auf Tiktok

Dr. Özgür Özvatan, Politikwissenschaftler und Soziologe, ist Abteilungsleiter am Berliner Institut für Migrationsforschung. In einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung untersucht er die politischen Folgen wachsender Radikalisierung auf der Plattform Tiktok. / Dr. Özgür Özvatan, political scientist and sociologist, is head of department at the Berlin Institute for Migration Research. In a guest article for the Süddeutsche Zeitung, he examines the political consequences of growing radicalization on the Tiktok platform.


In einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung untersucht Dr. Özgür Özvatan, Abteilungsleiter am BIM, die politischen Folgen wachsender Radikalisierung auf der Plattform Tiktok – und skizziert, welche Gegenstrategien helfen könnten.

In a guest article for the Süddeutsche Zeitung, Dr Özgür Özvatan, Head of Department at the BIM, examines the political consequences of growing radicalization on the Tiktok platform - and outlines which counter-strategies could help.

>online (Paywall): https://www.sueddeutsche.de/meinung/afd-tiktok-radikalisierung-algorithmen-kommentar-1.6346644



Extremismus:Die AfD hat Tiktok kapiert und erobert

Wie es der Partei und ihren Influencern gelungen ist, politisch Unzufriedene abzuholen, um sie zu radikalisieren – und was nun dringend nötig ist.

Gastkommentar von Özgür Özvatan

9. Februar 2024, 15:22 Uhr

Der Algorithmus von Tiktok begünstigt nicht nur Radikalisierung, sondern er beschleunigt sie auch. Extremisten betreiben höchst professionelle Radikalisierungskampagnen, in die sie viele Ressourcen stecken. Im Beliebtheitsvergleich politischer Parteien auf Tiktok hält die AfD inzwischen einen Marktanteil von 72 Prozent. Diese Vormachtstellung ist umso perfider, als Mandatsträger von SPD und AfD nahezu gleich viele Accounts auf dem Netzwerk betreiben: Jeweils 30 Prozent aller Tiktok-Konten von Parteien und ihren Vertretern entfallen auf sie. Doch die Marktanteile bei Beliebtheit und Virulenz sind massiv ungleich verteilt. Wo bleiben Analyse und Handlungen gegen solche algorithmischen Gefahren für die wehrhafte Demokratie?

Zwei Schlüsselfaktoren begünstigen sie: die mangelnde Sicherheitsinfrastruktur auf Social Media und die neue algorithmische Beschleunigung von Radikalisierung. Die Kontrolle digitaler Netzwerke bei der Verbreitung extremistischer Inhalte ist schlicht unzureichend, und die neue Geschwindigkeit dort lässt jedwede politische Reaktion immer als verspätet erscheinen. Wer Solidarität bräuchte, erfährt sie oft erst, wenn es bereits zu spät ist. Im Internet, dem Ad-hoc-Reaktionsraum unserer Zeit, treffen tagespolitisch Interessierte auf Extremisten, deren professionelle Ansprache sie durch leistungsfähige Algorithmen unter Bedingungen massiver Beschleunigung erreicht - ein toxisches Gemisch.

Tiktok schafft einen digitalen Bunker

Während die Weichenstellung für ideologische Radikalisierung früher analog, also allmählich, erfolgte, findet sie heute algorithmisch statt, teilweise binnen Minuten. Tatsächlich ist Tiktok eine ambivalente soziale Umgebung. Der Empfehlungsalgorithmus dort ermöglicht auch sonst weniger gehörten Stimmen Sichtbarkeit, er begünstigt eine Pluralisierung des Diskurses. Die Kehrseite: Es genügen eben wenige Minuten, um Hassideologien zu verbreiten. Das sind die Zeithorizonte der neuen Rasanz.

Damit und mit zielgruppenspezifischer Kommunikation bringen extremistische Profis ihre Botschaften an Menschen in einen "digitalen Bunker". Gefühle von Entsolidarisierung, ob nun von jüdischen, muslimischen oder einkommensschwachen Menschen, werden von Radikalisierern durch inszenierte Zugewandtheit mit sanfter Stimme und quasi-psychologischer Betreuung aufgegriffen - ein geschicktes Phishing nach Trauernden und Wütenden. Eine große Herausforderung dabei: In den kurzen Tiktok-Videos ist für Laien die Unterscheidung zwischen demokratischen und extremistischen Positionen nahezu unmöglich. Menschen verlieren sich rasend schnell im digitalen Einflussgebiet von Extremisten. Der Schritt, von dort in eine latente Handlungsbereitschaft ist zwar nicht unmittelbar, aber möglich.

In solch einer digitalen Umgebung treffen Strategie und Ressourcen von Demokratiefeinden auf einen besonders raffinierten Empfehlungsalgorithmus: Wenn ein Tiktok-Video bei Konsumenten und Konsumentinnen zum Beispiel Hass und/oder Liebe erzeugt, wird es vielen weiteren Menschen auf deren Für-dich-Seite, Tiktoks Timeline, gespült. Erkannt wird diese Erzeugung daran, wie lange sich User ein Video ansehen - und ob sie mit Aktionen wie Kommentaren oder dem Setzen von Emojis darauf reagieren. Viele Follower eines Accounts sind für die Sichtbarkeit eines Videos auf der Plattform also weniger relevant als dokumentierte Reaktionen auf User-Seite.

Die AfD und ihre Peripherie aus Influencern holen politisch Unzufriedene ab, um sie zu radikalisieren. Die Strategie: nicht nur auf ausgeklügelte Argumentation verlassen, sondern zusätzlich materielle Ressourcen für die Verbreitung einsetzen. Hauptamtliche Social-Media-Angestellte der AfD und ihrer Peripherie orchestrieren Video-Schauen sowie das Setzen von Kommentaren und Emojis. Jenes Kapital also, das mittels Empfehlungsalgorithmus die Maximierung von Reichweiten ermöglicht.

Männer zwischen 20 und 30 werden konservativer

Neue Zielgruppen werden zudem gezielt angesprochen. Maximilian Krah, der EU-Abgeordnete und Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl im Juni, warb im November auf Tiktok um die Gunst der Türkeistämmigen, indem er Präsident Erdoğan in Schutz nahm. Ohnehin hat sich die AfD im letzten Quartal 2023 immer mehr um Stimmen aus dem Migrantenmilieu bemüht - mit Erfolg. Es mehrten sich Tiktok-Videos migrantischer Influencer (insbesondere Männer), in denen sie Sympathien mit der AfD bekunden.

Die Financial Times hat soeben auf eine neue globale Spaltung der Geschlechter hingewiesen. Männer zwischen 20 und 30 Jahren werden konservativer, Frauen in dem Alter werden liberaler. Auf Tiktok sind tatsächlich erzkonservative bis frauenfeindliche Inhalte besonders virulent. Geschlechterfragen funktionieren dabei als Schnittstelle für verschiedene reaktionäre bis extremistische Positionen. Die AfD fischt in migrantischen Milieus gezielt nicht nur mit Pro-Erdoğan-Videos, sondern auch mit einer "Anti-Gender-Mainstreaming"-Rhetorik, um Erzkonservative dort anzuwerben - vornehmlich Männer, aber auch Frauen, die mit der Tradwife-Bewegung sympathisieren, also denjenigen, die ein traditionelles Frauenbild propagieren.

Wo sind die digitalen Strategien der Demokratien?

Nach den Correctiv-Enthüllungen über "Remigrations-", also Deportationspläne der AfD sind die Sympathiewerte für die Partei drastisch abgeflacht. So wichtig die Enthüllungen und die nun folgenden Demonstrationen auch sind - wir Demokraten haben uns einige Fragen zu stellen: Wieso haben demokratische Institutionen wie Ministerien, Sicherheitsbehörden, Stiftungen und Parteien bisher keine digitalen Strategien für die Verteidigung der Demokratie unternommen? Wo waren bisher die digitalen Strategien gegen die Vormachtstellung einer rechtsradikal bis rechtsextremen AfD und ihrer Peripherie auf Tiktok? Wie kann es sein, dass Demokratie- und Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Islamismus und Antisemitismus vor unseren Augen in Minutenschnelle wachsen können? Für einen effektiven Kampf gegen Gewalt auf Videoplattformen bedarf es eines ganz anderen Tempos. Automatisierte Erkennung, Gegenrede in Echtzeit und wissenschaftliche Sofortanalysen sind unerlässlich. Wer wird das Instrumentarium der wehrhaften Demokratie gegen die Bedrohung durch Tiktok finanzieren wollen?

Die Massendemonstrationen gegen Demokratiefeinde bilden ein Momentum, um mutige, antizipierende Mechanismen für die wehrhafte Demokratie einzuführen. Zeit wird es, gerade in der digitalen Öffentlichkeit.
 



 

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