Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)

Archiv der Flucht

Laufzeit: 2018 - 2021; Abteilung: Integration, soziale Netzwerke und kulturelle Lebensstile


Welche Formen des Erinnerns braucht es in heutigen Einwanderungsgesellschaften? Das Online-Archiv stellt die Erinnerungen nach Deutschland migrierter Menschen als integralen Bestandteil deutscher Nachkriegsgeschichte vor und bewahrt sie vor dem Vergessen und Verdrängen. Ein digitaler Gedächtnisort versammelt 41 dokumentarische Filminterviews mit Menschen, die in den letzten 70 Jahren in die Bundesrepublik oder die DDR eingewandert sind. 


Das Archiv der Flucht ist ein digitaler Gedächtnisort, der Geschichten von Flucht und Vertreibung nach Deutschland im 20. und 21. Jahrhundert bewahrt und reflektiert. Die Erfahrungen von Menschen, die alles zurückgelassen haben und hier Zuflucht fanden, prägten die beiden deutschen Staaten – und ihre Beziehung zueinander – von Beginn an. Diese Menschen erzählen von Flucht und Vertreibung, von Folter, Ausbeutung und Entrechtung, aber auch von Hoffnung und Glück. Sie sprechen über Heimat und Exil, Zugehörigkeit und Neuanfang – und am Ende offenbaren sie auch überraschende, vielfältige Perspektiven deutscher Geschichte.

Ihre Geschichten zeigen, dass Flucht und Migration nach Deutschland keine Ausnahmen oder krisenhaften Anomalien sind, sondern historische Normalität. Erst mit und durch diese Geschichten kann es gelingen, die Gegenwart und Zukunft zu verstehen. Welche Ähnlichkeiten spiegeln sich in den Fluchterfahrungen und welche Unterschiede? Wie verändern sich Fluchterfahrungen über die Jahrzehnte? Mit welchen Wünschen und Ambitionen, aber auch welchen Traumata sind die Menschen hierhergekommen? Welche Erfahrungen des Ankommens und der Ausgrenzung wiederholen sich? Wie werden die sozialen, politischen oder kulturellen Schwellen der Zugehörigkeit und Zuordnung verhandelt oder verändert? Was erzählen sie über das Hier? Was heißt das eigentlich: Flucht?

In seiner Entstehung hat sich das Archiv der Flucht Zeit gelassen: Über anderthalb Jahre wurden Workshops mit einem interdisziplinären Team aus Interviewer*innen und Berater*innen organisiert, um zu reflektieren: Welcher Fluchtbegriff wird dem Archiv zugrunde gelegt? Welche Zeitspanne soll es umfassen? Wie lässt sich verhindern, dass die Erfahrung der Anhörungen des Bundesamts für Migration und Flucht wiederholt wird? Welche Themen und Motive sollen sich durch alle Gespräche ziehen? Wie offen und frei müssen trotzdem die Interviewer*innen sein? Wie stellen wir sicher, dass sich die Tiefe der Erzählungen und die Breite der Perspektiven und Hintergründe ergänzen?

Gemeinsam wurde ein Leitfaden für die Interviews entwickelt: Die Gespräche beginnen bei der Kindheit und enden im Jetzt; dazwischen liegen die Entscheidung zur Flucht, der mal zügige, mal verworrene Transit sowie Ankunft und Leben in Deutschland – ob erst seit Kurzem oder schon seit Jahrzehnten.

Die Interviewer*innen entstammen ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und kulturellen Hintergründen. Sie bringen verschiedene Erfahrungen und Wissensformen ein, aber auch ein breites Spektrum in Alter, Migrationserfahrung und Herkunft. Es sind jüdische, muslimische oder atheistische, homosexuelle und heterosexuelle, weiße oder Interviewer*innen of Color, die sich zusammen auf dieses mehrjährige Projekt eingelassen haben.

Erst nach dieser intensiven Vorarbeit wurde mit der Ansprache begonnen, also der Kommunikation des Projekts in verschiedene Communitys, Vereine und Hilfsorganisationen hinein. Bei der Suche nach Menschen, die mitwirken würden, sollte die Auswahl der Gesprächspartner*innen nicht die üblichen Mechanismen der Exklusion und Diskriminierung wiederholen. Wir suchten sehr gezielt nach Erfahrungen und Herkunftsländern: Frauen, weniger gut ausgebildete und ältere Menschen sollten mit ihren Erzählungen ebenso sichtbar werden wie junge, berufstätige Männer.

Wenn wir uns um eine Breite der Erzählungen und Erfahrungen bemüht haben, so sind wir uns der Unvollständigkeit des Projekts bewusst. Ein Archiv spricht immer davon, dass es ergänzt und fortgeschrieben werden kann und soll. Die letztliche Auswahl beansprucht keine Repräsentativität.

Das Archiv der Flucht versammelt ausdrücklich die Erinnerungen verschiedener Generationen – von der Flucht im Jahr 1945 aus Schlesien bis hin zu jener im Jahr 2016 aus Libyen. Es birgt ein breites Spektrum an Geschichten, ob junge oder ältere Erzählende, ob Mütter oder Töchter, die alles zurücklassen mussten. Insgesamt versammelt das Archiv Protagonist*innen aus 27 Herkunftsländern in Südamerika, Afrika, Ost- und Südosteuropa, im Nahen und Mittleren Osten sowie Südost- und Ostasien, die in neun Sprachen erzählen. Die Geschichten umfassen die unterschiedlichsten sozialen oder kulturellen Hintergründe, Religionen, Sexualitäten. Von den 18 Frauen und 23 Männern ordnen sich vier als LGBTQIA+ ein. Es sind Schäfer oder Professor*innen, Arbeiter*innen oder Angehörige der Oberschicht. Zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen waren die Gesprächspartner*innen zwischen 19 und 87 Jahre alt.

Gemeinsam mit der Filmemacherin Heidi Specogna entstand ein filmisches Konzept, das den Respekt für die Menschen deutlich macht, die ihre Erzählungen dem Archiv und damit der Öffentlichkeit anvertrauen. Alle Interviews sind online verfügbar.

Die Interviewfilme werden der Öffentlichkeit in deutscher und englischer Sprache dauerhaft zugänglich und nicht nur für die politische Bildung und Migrationsforschung nutzbar gemacht. Mit der Veröffentlichung des digitalen Archivs am 30. September sind sie bis Anfang Januar 2022 in einer Installation im HKW zu sehen und werden zeitgleich an den Goethe-Instituten in Athen, Belgrad, Bukarest, Istanbul, Sarajevo, Tirana und Zagreb präsentiert. Während der Laufzeit der Installation am HKW initiieren Workshops mit Schüler*innen und Lehrer*innen politische Bildungsprojekte. In fachinternen Gesprächen diskutieren Expert*innen der politischen Bildungsarbeit sowie Praktiker*innen und Theoretiker*innen aus dem musealen und wissenschaftlichen Kontext mit Silvy Chakkalakal (Humboldt-Universität) sowie Yasemin Karakaşoğlu (Universität Bremen) zu Nutzung und Verbreitung des Digitales Archivs in den jeweiligen Feldern. Vier Thementage eröffnen das Archiv der Flucht am HKW als erinnerungspolitischen Beitrag zu gegenwärtigen Diskursen um Einwanderung. Hier diskutieren Theoretiker*innen, Aktivist*innen sowie Projektbeteiligte die Notwendigkeiten eines pluralen Gesellschaftsverständnisses angesichts gegenwärtiger politischer Konjunkturen.



Manuela Bojadžijev und Carolin Emcke haben gemeinsam das Archiv der Flucht (2021) kuratiert. Archiv der Flucht ist ein Projekt des Hauses der Kulturen der Welt. Das Online-Archiv und die Produktion der Filminterviews werden gefördert von der Kulturstiftung des Bundes. Das Archiv der Flucht ist von Oktober 2021 bis Januar 2022 in Kooperation mit den Goethe-Instituten und deren Partnern in Athen, Belgrad, Bukarest, Istanbul, Sarajevo, Tirana und Zagreb präsentiert worden. Die digitalen Bildungsangebote zum Archiv der Flucht sind in Kooperation mit mediale pfade - Verein für Medienbildung e.V., gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), entstanden. Das Archiv der Flucht entsteht zudem in Bibliotheken, Bibliothekskatalogen und Datenbanken in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv), dem Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Datenservicezentrum Qualiservice der Universität Bremen sowie den Stadtbibliotheken Tempelhof-Schöneberg und Pankow. 

Das Archiv der Flucht ist außerdem vom gleichnamigen studentischen Projektseminar im Sommersemster 2021 begleitet worden, in dem Antonia Welch Guerra als Tutorin mitarbeitete. 

Medienpartner sind taz, die Tageszeitung, sowie die Wochenzeitung der Freitag.

Das Archiv der Flucht  steht unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

 

Das Archiv ist darüber hinaus in Zusammenarbeit mit folgenden Personen erarbeitet worden: 

Künstlerische Leitung hatte Bernd Scherer

Outreach, wissenschaftlich-kuratorische Mitarbeit: Mohammad A. S. Sarhangi

Projektleitung, Produktionsleitung: Nadja Hermann

Projektleitung bis 2019: Cordula Hamschmidt, Annette Bhagwati

Filmdramaturgische Beratung: Heidi Specogna

Fremdsprachliche Beratung: Lilian-Astrid Geese

Organisatorische Beratung: Andrea Rostásy

Juristische Beratung: Inken Stern

Medizinisch-Psychologische Beratung: Malek Bajbouj

Wissenschaftliche Beratung/Projektpartnerin: Stefanie Schüler-Springorum

Bildgestalterische Beratung: Johann Feindt

Website Beratung: Karen Khurana

Interviewer*innen: Mohamed Amjahid, Gabriele von Arnim, Manuela Bojadžijev, Carolin Emcke, Eva Gilmer, Charlene Lynch, Ethel Matala de Mazza, Mohammad A. S. Sarhangi, Amir Theilhaber, Joseph Vogl

Protagonist*innen: Éva Ádám, Fatuma Musa Afrah, Ibraimo Alberto, Mouna Aleek, Kerim Borovina, Bino Byansi Byakuleka, Dao Quang Vinh, Samra Habta, Freweyni Habtemariam, Ranjith Henayaka-Lochbihler, Ahmad Hussainy, Muhammed Lamin Jadama, Zeynep Kıvılcım, Levent Konca, Yiwu Liao, Gudrun Lintzel, Eric Mbiakeu, Blaise Baneh Mbuh, Yasmin Merei, Mira, Mila Mossafer, Lucía Muriel, Abdulkadir Musa, Nelly Neufeld, Hamid Nowzari, Saloua Nyazy, Stephen Okumu, Saideh Saadat-Lendle, Nadja Salzmann, Sasha Marianna Salzmann, Kava Spartak, Remzija Suljić, Bashar Taha, Viktor, Bruno Watara, Regina Webert-Lehmann, Max Welch Guerra, Moro Yapha, Hayyan Al Yousouf, Fatima Youssouf

Kamera: Jule Katinka Cramer, Katharina Diessner, Thomas Keller, Anne Misselwitz, Luise Schröder, Carmen Treichl

Originalton: Manja Ebert, Joscha Eickel, Adel Gamehdar, Matthias Hartenberger, Florian Hoffmann, Anastasios Papiomytoglou

Studioaufbauten, Licht, Ton: Stephan Barthel, Benjamin Brandt, buk filmbau, Jason Dorn, Simon Franzkowiak, Martin Gehrmann, Bastian Heide, Matthias Henkel, Kujawa Raumdesign, Leonardo Rende, Andrew Schmidt, Stefan Seitz, Klaus Tabert

Montage: Petja von Bredow, Wiebke Hofmann

Postproduktion: Concept AV - Stefan Engelkamp, Stefan Gohlke

Mischung: Jonathan Schorr

Rental Lichttechnik: a prima vista

Rental Tontechnik: Kortwich Filmtontechnik

Übergreifende Koordination Dolmetscher*innen: Lilian-Astrid Geese

Simultan-Dolmetscher*innen: Ahmed Mahadi, Lilian-Astrid Geese, Freweyni Habtemariam, Jing Möll, Duc Thang Nguyen, Günther Orth, Christoph Rolle, Mercede Salehpour, Alexander Schmitt

Transkription und Übersetzung: Elif Amberg, Joni Barnard, Anna Bartholdy, Ulrike Bernard, Jennifer Brandt, Madeleine Dallmeyer, Julie Dorstewitz, Helen Ferguson, Lilian-Astrid Geese, Cornelia Herfurtner, Simone Hess, Kerstin Krolak, Elisa Purfürst, Lena Scheidgen, Colin Shepherd, Sebastian Weitemeier, Martina Würzburg

Sequenzierung: Shohreh Shakoory

Aufnahmen Studio - Voice Over: Matthias Hartenberger, Anastasios Papiomytoglou

Audioschnitt - Voice Over: Jozefina Chetko

Mischung - Voice Over: Jonathan Schorr

Dolmetscher*innen - Voice Over: Oliver Corff, James Crompton, Viky Feghali, Lilian-Astrid Geese, Marcus Grauer, Niels Hamdorf, Antoinette Janko, Catherine Johnson, Günther Orth, Katherine Vanovitch, Sebastian Weitemeier

Layout und Design Website: Silke Krieg

Programmierung Website: Georg Lauteren