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Gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern, Ungleichbehandlung und doppelte Standards vermeiden

Stellungnahme im Kontext des BIM-Papers vom 25.3.22 über die Folgen des Kriegs in der Ukraine für Migration und Integration / Kurzversion



Von Daniel Kubiak und Katarina Stjepandic




Kontinuitäten der Solidarität seit dem Sommer der Migration 2015


Vieles erinnert in diesen Tagen der andauernden russischen Militärintervention in der Ukraine und der damit verbundenen Flucht unzähliger Menschen an den Sommer der Migration im Jahr 2015. Mindestens genau so viel unterscheidet sich die derzeitige Situation von der Situation vor sieben Jahren.

Als im September 2015 die Bundesregierung erklärte, dass sie die in Ungarn festsitzenden, überwiegend vor dem syrischen Bürgerkrieg fliehenden Menschen aufnehmen würde (Spiegel 2015), wurde die Route über den Balkan zu dem, was Menschenrechtsorganisationen unermüdlich seit Jahrzenten forderten: zu einem kurzfristigen humanitären, staatlich legitimierten, wenngleich nicht institutionalisierten Fluchtkorridor (Kasparek 2019).

Im Jahr 2015 suchten knapp 1,1 Millionen Menschen Schutz in Deutschland (BAMF 2015). Das Engagement der Zivilgesellschaft bei der Unterstützung und Unterbringung der Ankommenden ging als Willkommenskultur in die jüngere Geschichte der Bundesrepublik ein. Ein regelrechter „Solidaritätshype“ (Jakob 2016, 165) brach aus, die Grenz- und Asylpolitik trat diskursiv in den Hintergrund und wirkte doch als Verwaltungskrise weiter. Die Aufmerksamkeit lag vorerst aber auf der Willkommenskultur – so wie jetzt im Winter 2022.

Beinahe zeitgleich kam es zu einer massiven Zunahme von rechter Gewalt. Die rechtsradikalen und rassistischen Angriffe auf Asylunterkünfte nahmen in erschreckendem Maße zu. Im Vergleich zu 2014 meldet das BKA für das Jahr 2016 einen Anstieg von 364% (Deutscher Bundestag 2015). Aufkeimende rassistische Debatten nach der Silvesternacht in Köln 2015/2016 verschoben allmählich die gesellschaftspolitischen Koordinaten, die Stimmung kippte, die Grenzen und die Balkanroute wurden geschlossen.

Auf den Sommer der Solidarität folgte der Winter der Grenzregime (Buckel 2018). Trotz repressiver Asyl- und Grenzpolitik, trotz zunehmender Externalisierung von Grenzen durch den EU-Türkeideal etc. hat sich die Zivilgesellschaft in Deutschland maßgeblich verändert. Auch wenn in der Willkommenskultur ein humanitärer Impetus der Grund für viele Menschen gewesen ist, sich zu engagieren, hat dieses Engagement zur nachhaltigen Politisierung von Unterstützer*innen geführt (Schwiertz/ Steinhilper 2021).

Nicht zuletzt ist unter anderem auch davon auszugehen, dass die seither stattgefundene Aktivierung der Zivilgesellschaft und der unermüdlichen Kämpfe von Geflüchteten für ihre Rechte sowie die gestiegene Mobilisierungsfähigkeit und Protestbereitschaft auf die Politisierung vieler Menschen im Sommer der Migration zurückzuführen ist (Stjepandić et al. 2022). Auch ist davon auszugehen, dass die enorme Welle der Solidarität, die derzeit schutzsuchenden Menschen aus der Ukraine entgegengebracht wird, auf Wissen, Erfahrungen und geschaffenen Strukturen der Selbstorganisation aus dem Sommer der Migration 2015 und den Folgejahren aufbaut.

Doppelstandards: Rechtliche Grundlagen und Solidarität der Zivilgesellschaft

Institutionelle Ebene


Am 04. März 2022, nur wenige Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, beschließt der Europäische Rat das Inkrafttreten der Massenzustrom-Richtlinie 2001/55EG (Rat der Europäischen Union 2001), wonach Flüchtenden aus der Ukraine eine unkomplizierte Aufnahme mittelfristig ermöglicht werden soll.

Im Vergleich hierzu mussten Schutzsuchende, die 2015 und 2016 nach Europa geflohen sind, sehr viel riskantere Fluchtwege in der Regel über die Mittelmeerrouten wählen und es gab auch keinen vorübergehenden Schutz. Zudem kollabierten de facto die Regeln des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, weil die Länder an den Außengrenzen der EU auf die Registrierung verzichteten und minimale humanitäre Standards verletzten. Mit der historischen Entscheidung, die Massenzustrom-Richtlinie erstmals zu aktivieren und die Grenzen für Geflüchtete aus der Ukraine vollständig zu öffnen, werden viele dieser Probleme heute mittelfristig umgangen.

Das ist gleichzeitig zu begrüßen wie auch zu hinterfragen. Fraglich ist nämlich, inwiefern die Mitgliedstaaten der EU aus den gravierenden Fehlern der Vergangenheit gelernt haben, oder ob sich in der Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie eine bevorzugte Behandlung europäischer Schutzsuchender herauslesen lässt. Besonders fraglich ist derzeit außerdem, wie Menschen ohne ukrainische Staatsbürgerschaft, die auch aus der Ukraine fliehen, ebenfalls vorübergehend oder langfristig Schutz zugesichert werden kann. Die derzeitige rechtliche Grundlage für ukrainische Schutzsuchende sollte zukünftig ein Mindeststandard für Schutzsuchende Menschen in Allgemeinen gemacht werden.

Ebene der Unterstützungsstrukturen


In den entstehenden Unterstützungsstrukturen und der Bereitschaft der Zivilgesellschaft schutzsuchenden Menschen zu helfen, treten die Grenzen der Solidarität und auch ein sich wandelnder Rassismus zu Tage. Aus der Ukraine fliehen nicht lediglich weiße, ukrainische Staatsbürger:innen, sondern auch BIPoC Menschen und/oder Menschen aus Drittstaaten ohne ukrainische Staatsbürgerschaft (UNRIC 2022).

Es gibt Berichte darüber, dass diese Menschen erhebliche Schwierigkeiten hatten, die Grenzen zu überqueren um in Sicherheit zu kommen (UN HRC 2022). Die Tatsache, dass Unterstützungsstrukturen wie jene von beispielsweise Each One Teach One in Berlin, die BIPoC Menschen aus den Mengen der Ankommenden an den Bahnhöfen gezielt ansprechen, ihnen Hilfe anbieten, aber gleichzeitig eine Art positives racial profiling vornehmen, löst ein Unbehagen aus und erscheint auf Basis von Erfahrungswerten in Unterstützungsstrukturen als notwendig.

Auch wir als gesellschaftlich aktive Wissenschaftler:innen erlebten wiederkehrend, wie schwarze Menschen bei der Vermittlung privater Unterkünfte abgewiesen wurden, weil Privatpersonen ukrainische Schutzsuchende und keine Schwarzen Menschen aufnehmen wollten. In einem Forschungsprojekt in einer ostdeutschen Großstadt können wir beobachten, dass sich Organisationen bei der Hilfe von Geflüchteten aus der Ukraine beteiligen, die sich vorab gegen den Aufenthalt von Geflüchteten aus Syrien oder Afghanistan ausgesprochen haben.

Ebene diskursiver Otheringprozesse

Mitunter werden deutschland- und europaweit Stimmen laut, die eine bevorzugte Behandlung ukrainischer Geflüchteter im Vergleich zu Drittstaatenangehörigen mit einem temporären Aufenthaltsstatus in der Ukraine oder im Vergleich zu Geflüchteten aus Syrien, zu rechtfertigen versuchen. Legitime Fluchtgründe und ein legitimer Anspruch auf Schutz werden in diesem Zuge angezweifelt und unter Rückgriff auf rassistische Erklärungsmuster abgesprochen.

Beispielhaft wird dies entlang des Verweises auf den hohen Männeranteil unter den syrischen Geflüchteten. Der Krieg in Syrien hatte 2015 bereits fünf Jahre angedauert, zwischen 200.000 und 400.000 Todesopfer unter Zivilbevölkerung gefordert, darunter viele Folteropfer. Viele Männer mussten auch vor Zwangsrekrutierung flüchten, während ukrainische Männer derzeit noch an den ukrainischen Grenzen am Übertritt durch ihr Heimatland gehindert werden. Während in den Nachbarstaaten Syriens das Geschlechterverhältnis unter den Geflüchteten ausgeglichen ist, konnten die Frauen, Kinder und andere vulnerable Gruppen die EU aufgrund der hohen Fluchtrisiken nicht erreichen. Dies ist auch das Ergebnis der europäischen Flucht- und Asylpolitik gewesen, die systematisch versucht hat die Zugangswege zu versperren. Auch erleben wir derzeit erneut das Aufkommen von Kulturkreisdebatten, die die Solidarität gegenüber ukrainischen Geflüchteten diskursiv mit westlichen Werten, kultureller, religiöser und geografischer Nähe zu begründen versuchen und im gleichen Zuge die kulturelle, religiöse und geographische Ferne syrischer und afghanischer Schutzsuchender zementieren.

Das ist insofern überraschend, als es durchaus wenig beachtete Forschung zum Othering der postsozialistischen Staaten (Krastev/Holmes 2019), des Ostens im Allgemeinen und immer wieder messbaren antislawischen Rassismus in der der deutschen Gesellschaft gibt. Das ist deshalb kritisch zu beleuchten, weil die viel betonte identitäre und emotionale Nähe zu Osteuropa noch vor wenigen Wochen ein mitunter selten zu vernehmendes Argument gewesen ist. Erst der Ausbruch kriegerischer Auseinandersetzungen und die Existenz eines gemeinsamen Feindbildes scheinen in diesem Zusammenhang Nähe und Verbundenheit erzeugt zu haben.

Es bleibt zukünftig zu beobachten, wie sich sowohl mediale, als auch rechtliche und zivilgesellschaftliche Dynamiken und Diskurse entwickeln werden. Das Aufzeigen von Ungleichbehandlung und doppelten Standards in der Solidarität mit Schutzsuchenden ist notwendig, nicht weil es darum geht die aktuell progressiven Entwicklungen zu verurteilen, sondern im Gegenteil, daraus zukünftig Mindeststandards für Fliehende und Geflüchtete im Allgemeinen abzuleiten, die auf einer bedingungslosen Solidarität beruhen.


Wichtige Maßnahmen könnten sein:

 

  • Eine breite politische und gesellschaftliche Diskussion in den Mitgliedstaaten der EU, was aus den Erfahrungen der Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine und früheren Episoden der Fluchtmigration für die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gelernt werden kann.
  • Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft gegenüber Ungleichbehandlungen und ungleichen Wahrnehmungen verschiedener Gruppen von Geflüchteten oder anderen Migrant*innen.
  • Die Förderung des Zusammenlebens durch systematische Förderung von Kontakten zwischen den Geflüchteten unabhängig von ihrer Herkunft und möglichst breiten Gruppen in der Bevölkerung, u.a. in Vereinen, Verbänden, Kirchen, Moscheen u.v.a. Organisationen, um das wechselseitige Verständnis und die Empathie zu fördern.
  • Das formulierte Ziel einer bedingungslosen Solidarität gegenüber schutzbedürftigen Menschen in den europäischen Aufnahmestaaten
  • Durch den Krieg in der Ukraine ist eine Region der Erde wieder medial und gesellschaftlich relevant geworden, die bis vor kurzem weniger Aufmerksamkeit bekommen hat – daher sollte einer gewissen einseitigen Fokussierung bestimmter Regionen der Welt entgegengewirkt werden, stattdessen sollte Bemühungen geben, dass zu allen Regionen politische und wissenschaftliche Beziehungen und damit verbundene Expertise bestehen

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Literatur

 

  • Buckel, S. 2018. Winter is coming: Der Wiederaufbau des europäischen Grenzregimes nach dem „Sommer der Migration“. PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft48(192), 437–457.
  • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. 2016. Migrationsbericht 2015. Online unter: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Migrationsberichte/migrationsbericht-2015.html?nn=403964.
  • Deutscher Bundestag. 2015. Kleine Anfrage – Fragen zur polizeilichen Lagebildung von Anschlägen gegen Flüchtlingsunterkünfte. Drucksache 18/7000. 14.12.2015.
  • Jakob, C. 2016. Die Bleibenden: Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern. Berlin: Ch. Links Verlag.
  • Kasparek, B. 2019. Europas Grenzen: Flucht, Asyl und Migration. Berlin: Bertz + Fischer.
  • Krastev, I. & Holmes, S. 2019. Das Licht, das erlosch. Wie der Westen den Kalten Krieg gewonnen, aber den Frieden verloren hat. Berlin: Ullstein Buchverlage.
  • Kyriakidou, M. 2021. Hierarchies of deservingness and the limits of hospitality in the ‘refugee crisis’. Media, Culture & Society, 43(1), 133–149.
  • Mayer, S., Lietz, A,Dollmann, J., Siegel, M. & Köhler, J. 2022. Reaktionen auf den Ukraine-Krieg. Eine Schnellbefragung des DeZIM.panels. Berlin: DeZim-Institut. https://dezim-institut.de/fileadmin/Publikationen/WorkingPapers/DeZIM-WorkingPaper_Reaktionen-auf-den-Ukraine-Krieg_03-2022.pdf.
  • Rat der Europäischen Union. 2001. Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften. 7.8.2001. https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2001:212:0012:0023:DE:PDF.
  • Schwiertz, H. & Steinhilper, E. 2021. Countering the asylum paradox through strategic humanitarianism: Evidence from safe passage activism in Germany. Critical Sociology, 47(2), 203–217.
  • Spiegel. 2015: Merkel und Faymann zur Flüchtlingskrise "Wir dürfen Menschen, die Asyl suchen, nicht im Stich lassen". Spiegel. 15.09.2015. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/merkel-und-faymann-zur-fluechtlingskrise-a-1053051.html.
  • Stjepandić, K., Steinhilper, E., & Zajak, S. 2022. Forging Plural Coalitions in Times of Polarisation: Protest for an Open Society in Germany. German Politics, 1-26.
  • UN HRC. 2022. Ukraine: UN experts concerned by reports of discrimination against people of African descent at border. Pressemitteilung UN Human Rights Council. 03.03.2022. https://reliefweb.int/report/ukraine/ukraine-un-experts-concerned-reports-discrimination-against-people-african-descent
  • UNRIC. 2022. Flucht vor dem Krieg in der Ukraine: Mehr als zwei Millionen Menschen fliehen. UNRIC - Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen. 09.03.2022. https://unric.org/de/ukraine09032022/ .